Charlotte Leander, Anweisungen zur Kunststrickerei, 1843

Asche auf mein Haupt, es ist nun schon eine ganze Weile her, daß ich über meinen Besuch im Researchers’ Room des Estnischen Nationalmuseums in Tartu schrieb. Aber eben nur ein wenig schrieb, denn ich war auf dem Sprung nach Demmin. Und die Zeit vergeht so schnell mit so vielen unnötigen oder ungeliebten Tätigkeiten (Webseiten vor Spam und Hack-Attaken schützen und andere unerfreuliche Dinge), daß mir der Beitrag aus dem Fokus geraten ist.
Aber das hole ich jetzt nach, denn der Besuch dort hat mich doch sehr beeindruckt.

Meine Studienobjekte

Ich hatte, wie schon geschrieben, zwei unbekannte Objekte zur Ansicht gewünscht und damit sich der Besuch dann auch wirklich lohnt, falls diese Teile doch recht unergiebig sein sollten, noch 2 Paar Strümpfe mit travelling stitches.
Und so kam ich in den Raum, auf einem Tisch waren meine Objekte für mich ausgebreitet, ich trug mich in eine Liste ein und wurde belehrt, daß ich nur mit Bleistift schreiben dürfe... das leuchtete mir sofort ein, Tinten- oder Kugelschreiberflecke müssen verhindert werden.

Es herrschte eine ruhige Arbeitsathmosphäre, eine Dame nahm die Maße einer Bluse ab, ein Mann saß an einem Computer und mehrere junge Frauen studierten Handschuhe und als ein Kleiderständer mit Kleidern von der Insel Muhu in den Raum gerollt wurde, ging ein Raunen und ein Lachen durch den Raum. Wer so arbeiten kann, mit soviel Freude und Konzentration..

Und ich ging nun daran, das weißblaue Strickstück zu studieren. Ich habe es vermessen, die Maschen gezählt und Detailaufnahmen genommen, denn vielleicht stricke ich diese Muster alle einmal nach?

ein Klick aufs Bild öffnet es in größerer Ansicht

Das Museumsobjekt

Das Anhängsel am unteren Rand

Das alte Archvierungsetikett

Reet Kurrik uurimas rahvarõivaid - Reet Kurrik, Volkstrachten studierend
Das Foto habe ich von Anu Pink erhalten, es stammt auch aus dem Museum

Das erste Bild stammt von der Webseite der estnischen Museen Muis.e (kindakirjad, ERM A 399:12, Eesti Rahva Muuseum) und zeigt das komplette Objekt.

Es handelt sich um einen 56cm langen rundgestrickten Schlauch, Umfang 9cm, mit insgesamt 12 verschiedenen Mustern. Wegen der Form und dem eigenartigen Anhängsel am unteren Rand vermutete ich ja, daß es sich hier um einen Beinstulpen handeln könnte. Aber wie immer ist alles viel einfacher und anders. Es ist ein Musterstreifen mit 12 Handschuhmustern und das Anhängsel wurde später hinzugefügt, wohl damit es nicht verlorengeht.
Mir fiel auf, daß dieser Streifen nicht fertig gestrickt ist, die letzte Reihe wurde nicht abgekettet, die Maschen wurden auf einen Faden gezogen, wohl um immer weitere Muster anfügen zu können.

Ich habe mir vorgenommen, davon mal eine Strickschrift anzufertigen.

 

 

Aber wer hat diesen Musterstreifen angefertigt? Ich kann ja kein Estnisch und verstehe deshalb die nicht übersetzten Objektbeschreibungen auf der Museumsseite nicht. Deshalb habe ich Anu Pink gefragt und sie hat mir auch Auskunft geben können:

Ich schreibe in Deutsch, weil ich in Englisch noch schlechter bin :)
Leider habe ich kein besseres Foto von diesem Handschuhe Muster, aber ich sende dir ein Foto, wo ist Reet Kurrik. Sie hat diese Musterprobe Beginn des 20. Jahrhunderts gestrickt.
Reet Kurrik (1849-1948) war der Besitzer des Herrenhauses in Enge (in der Nähe von Suure-Jaani) und sie hat einer der ersten estnischen Handwerksschulen gegründet. Er war auch ein großer Sammler und Förderer nationaler Muster. Diese Muster hat sie aus Suure-Jaani gesammelt und diese musterprobe auch selbst gestrickt (Beispiel für ihre Schüler). In diesem Bereich gibt es keine Daten zum Tragen von Leggings.
Wenn Du wirklich ein besseres Foto wünscht, kannst du das elektronisch bei ERM kaufen (es kostet ~2 euro).

Stricken ist das beste Hobby der Welt!

Mit Herzliche Grüße
Anu aus Türi

Reet Kurrik war also eine Pionierin der Textilforschung und sie beherrschte und dokumentierte verschiedene Handarbeitstechniken. So sind in der Sammlung des Estnischen Nationamuseums auch Brettchen für das Bandweben und einige gewebte Bändchen erhalten.

Sie lebte auf dem Gut Ängi  in Suure-Jani, nicht weit von Olustvere, wo ich ja einige Male beim Craft Camp gewesen bin. Auf der Estnischen Museumsseite kann man nach ihren Namen suchen und erhält 12 Treffer.
Das hätte ich mal tun sollen, denn dann hätte ich auch den 2. Musterstreifen, der noch besser erhalten ist, entdeckt. Und den ich jetzt wohl bei einem späteren Besuch im Nationalmuseum betrachten werde...

Und jetzt wird es noch interessanter - der zweite Musterstreifen, 10cm im Umfang und 89 cm lang, scheint sogar sogar besser erhalten. Die Beschreibung dieses Objekts:
"Korjaja teatel 8 eri kirja, tegelikult näib olevat 10-11 kirja. Ühes otsas (kumbas?) olla Barklai de Tolli kinnaste proov, missuguseid ta liulaskmise juures olla tarvitanud. Barklai de Tolli elanud Enge mõisas 100 a tagasi 20 a vanusena."

Ich habe die verschiedensten online-Übersetzer ausprobiert und die Ergebnisse sind nicht unbedingt "sinnhaftig".

Eine Mischung aus allen Übersetzungen (deutsch und englisch ausprobiert) ergibt ungefähr dies:

Es wird von 8 verschiedenen Mustern berichtet, tatsächlich aber sieht man 10 oder 11 Muster. An einem Ende (kumbas?) vermutet man das Musterbeispiel der Handschuhe Barklai de Tollis, die er beim Schlittenfahren trug. Er lebte vor 100 Jahren im Alter von 20 Jahren im Herrenhaus Enge.

Ich drösele die Information von der Museumsseite mal auf:

  • Barklai de Tolli => Barclay de Tolly war ein deutsch-baltischer Aristokrat mit schottischen Wurzeln und stammt aus Livland. Er ging früh zur Armee und wurde später russischer Kriegsminister. Er führte das russische Heer gegen Napoleon und besiegte die französische Armee mit seiner Taktik der verbrannten Erde.  s. Wikipedia, https://de.wikipedia.org/wiki/Michael_Andreas_Barclay_de_Tolly
    (Letztendlich wurde er von General Michail Kutusov abgelöst, der als Sieger über Napoleon in der Schlacht von Borodino in die Geschichte einging)
    Es scheint daß er in seiner Jugend einige Zeit auf dem Gut Enge gelebt hat.
  • Herkunft: Eesti Suure-Jaani; mõis Enge => Estland, Gemeinde Suure-Jaani, Herrenhaus Enge
  • koguja: Tomp, Karl => Sammler: Karl Tomp
  • üleandja: Kurrik, Reet => Überbringer: Reet Kurrik
  • seosisik: Barclay de Tolly, Michael Andreas (1761-1818), sõjaväejuht => Bezug zur Person Barclay de Tolly, Michael Andreas (1761-1818), Militär
  • valmistaja: Kurrik, Reet => Ausführende: Reet Kurrik
  • 1850 -1920, silmuskudumine => 1850 - 1920, Stricken

Ich reime mir also zusammen, daß es Handschuhe des jungen Adeligen gegeben haben muß, deren Muster von Reet Kurri aufgeschrieben und nachgeschrieben wurde.
Ich bleibe dran und frage nach, ob ich eine wirklich brauchbare Übersetzung bekommen kann. Aber wieder einmal faszinierend auf welche Verbindungen man stößt wenn man versucht genauer hinzuschauen.
Ich war ja schon bei meinem Besuch in Töstamaa im Sommer auf einige Querbeziehungen gestoßen und jetzt diese faszinierende Geschichte!

Der 2. Musterstreifen und die zwei Strumpfpaare kommen dann noch später an die Reihe.. Es bleibt spannend!

Ein Foto von Reet Kurri und ihrem Gatten (Jaan Iir ja Reet Iir - Kurrik Halliste - Penujas (teist korda oli abielus hr. J. Kurrikuga, end. Enge ms. omanikud), ERM Fk 1065:18, Eesti Rahva Muuseum, http://www.muis.ee/en_GB/museaalview/698293)

Porträt Michael Andreas Barclay de Tolly, deutsch-baltischer Offizier sowie russischer General und Kriegsminister