Charlotte Leander, Anweisungen zur Kunststrickerei, 1843

Auf dem Craft Camp - Programm steht jedes Jahr auch ein Ausflugstag, und die häufigsten Ziele sind das Estnische Nationalmuseum in Tartu, das Museum in Heimtali, ein Ausflug nach Setomaa im Südosten des Landes und jedes Jahr kommen auch neue Ziele hinzu. Seit letztem Jahr wird ein Ausflug nach Töstamaa angeboten samt "Schafscheren auf der Insel Manilaid" und das habe ich diesmal gebucht, ich wollte das unbedingt sehen.

Töstama ist ein kleiner Ort, gehört inzwischen zur Stadt Pärnu und ist bekannt für die wunderschönen Handschuhe mit Inlay-Mustern und für das Handarbeitszentrum. Anu Randmaa, bei der ich letztes Jahr einen Workshop zu dieser Technik besuchen konnte, leitet das Käsitöökeskus / Handarbeitszentrum, das zusammen mit der Bücherhalle und einer Töpferwerkstatt einen kreativen Schwerpunkt in diesem Ort bildet. Im Sommer ist auch der Laden des Zentrums geöffnet, außerhalb der Saison kann man aber nach Voranmeldung auch wunderbare Dinge erstehen.
Ich erfuhr Einiges über die Ergebnisse der EU-Förderung für dieses Zentrum, denn das EU-Förderprogramm für ländliche Räüme, LEADER, bei dem ich hier in Ostvorpommern auch aktiv bin, hat hier viel Gutes unterstützt. Hier wird auch das immaterielle Kulturerbe gefördert, nicht nur das materielle wie bei uns. Infrastruktur gäbe es genug. meinte Anu, nun muss sie genutzt werden.
Und das wird es. Es gibt Kurse und Workshops, Frauen fertigen hier ihre eigene Tracht an  (ein Prozeß. der bis zu zwei Jahre dauern kann) und Kinder und Jugendliche lernen textile Techniken und Töpfern.
Ein wunderbarer Ort!

 

Bevor es ins Handarbeitszentrum ging, besuchten wir aber erst den Gutshof von Töstamaa, Sitz eines deutsch-schwedisch-baltischen Adelsgeschlecht westfälischen Ursprungs (Stael von Holstein) , der heute in postklassizistischer Pracht als Schule dient. Was eine tolle Umgebung fürs Lernen.

Ich war zum ersten Mal hier, aber zu meinem Erstaunen stellte ich einige Verbindungen zu diesem Ort fest.

Alexander von Stael-Holstein

Universitätsbibliothek Heidelberg [CC BY-SA 4.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0)]

Der letzte Gutsherr, Alexander Stael von Holstein (1877 - 1937), war Kultur- und Sprachwissenschaftler, studierte in Berlin und Halle Indologie mit dem Schwerpunkt auf Prakrit, die Urform das Sanskrit. Er lehrte in St. Petersburg, studierte in Harvard und lebte und lehrte dann bis zu seinem Tod in Peking.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erforschten die Junggrammatiker die Entwicklung der Sprachen, und versuchten durch das Studium der alten Sprachen die Ursprache, das Indogermanische / Indoeuropäische, zu rekonstruieren. Sie wandten sich von der Geisteswissenschaft zur Naturwissenschaft hin, denn ihre Arbeitshypothese, die Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze, war nur durch Beweise und nicht durch gesellschaftlichen oder anderen Kontext zu belegen.
Warum ich hier zu den Junggrammatikern verweise? Mein Urgroßonkel Hermann Osthoff war einer der führenden Köpfe der Junggrammatiker mit Schwerpunkt auf Griechisch, Latein, altindische (Sanskrit) und altgermanische Sprachen  und Alexander Stael von Holstein muß seine Arbeiten gekannt haben. Ich selbst habe mich im ersten Staatsexamen über die Junggrammatiker prüfen lassen und ich hätte nie gedacht, irgendwo diesem Thema wieder so nahe zu kommen.

Es gibt einige Referenzen im Netz über Stael-Holsteins Leben und Wirken, aber nur sehr wenige Fotos.

Die Universität Heidelberg veröffentlichte ein eindrucksvolles Porträt von Hermann Osthoff und ich bin sicher daß ich in meinen geerbten Fotoalben auch noch Bilder finden könnte. Aber die sind auf dem Speicher sicher verwahrt und ich mag sie jetzt nicht hervorkramen.

Und noch ein, nein zwei Exkurse zur Famile Stael-Holstein, deren diverse Stammbäume sehr akribisch auf der Familienwebseite aufgelistet sind.

Der russische Dichter Anton Tschechow gehört zu meinen bevorzugten Autoren, ich habe sein ganzes Werk studiert und bin immer noch berührt von seiner Menschenkenntnis und seiner Nachsicht mit den Schwächen der Menschen. Aber nicht Alles hat er verstanden. Er unterhielt einen langen Briefwechsel mit Jelena Alexejevna Pletschejeva,und hielt sie sogar für seine Braut. Sie allerdings heiratete 1892 den kaiserlich-russischen Hofchef Baron Stael von Holstein.

Auf der genannten Webseite der Stael-Holstein  finden sich auch einige Anekdoten und diese hier hat es mir angetan;

Während des Großen Nordischen Krieges geriet der Königliche Schwedische Feldmarschall Georg Bogislaus Freiherr Stael von Holstein in russische Gefangenschaft. In Moskau vermählte er sich mit Gräfin Ingeborg Horn von Rantzien. 1711 wurde er entlassen, während seine Frau in Russland zurückblieb und für tot galt.

Als sich nun der Feldmarschall mit Sophie Elisabeth von Ridderschanz verlobte, kehrte seine Ehefrau kurz vor der Hochzeit aus Russland zurück und lebte noch 50 Jahre. Nach ihrem Tode ließ sich Georg Bogislaus noch mit 77 Jahren mit seiner gewesenen Braut von Ridderschanz trauen, die inzwischen das Alter von 64 Jahren erreicht hatte.

Gräfin Ingeborg Horn zu Rantzien

Gräfin Ingeborg Horn zu Rantzien

Gräfin Ingeborg Horn von Rantzien - diese Dame stammt aus dem Gribower Nachbardorf Rantzin, keine zwei Kilometer Luftlinie entfernt!

Und was für ein Leben!

Wieder ein Zufall.

Dieser Beitrag ist sehr lang geworden und ich bin gehörig abgeschweift. Aber zumindest für mich ist es interessant, wie verknüpft und verflochten unsere Orte und unsere Leben / Familien sind.

Über das Handarbeitszentrum, die Küstenwiesen von Töstamaa und die Erlebnisse auf der Insel Manilaid schreibe ich im nächsten Beitrag, für heute mags genug sein.