Charlotte Leander, Anweisungen zur Kunststrickerei, 1843
Ziel des zweiten Tages unserer kurzen Reise nach West-Pommern und Pommerellen war Wdzydze Kiszewskie in der Tucheler Heide (Bory Tucholskie), im Herzen der Kaschubei, an einem großen See, in einem großen Waldgebiet.

Der Ort war infolge der Landflucht gegen Ende des 19. Jahrhunderts verlassen, bis 1906 das Ehepaar Teodora und Isidor Gulgowski hier ein Freilichtmuseum gründeten, damit das älteste Freilichtmuseum Polens.
In der Wikipedia liest man dazu:

"Das im 19. Jahrhundert aus armutsbedingter Entvölkerung heraus entstandene Freilichtmuseum ist inzwischen zur wirtschaftlichen Basis des Ortes geworden. "

Teodora and Izydor Gulgkowski

Teodora und Izydor Gulgkowski, Ethnologen und Museumsgründer

Die erste Hütte ist heute nicht mehr erhalten, aber 52 Objekte aus der Kaschubei und aus Kociewie (eine Region in Pommerellen)  sind inzwischen zusammengekommen, wiederaufgebaut und eingerichtet: Bauernhäuser, Gutsherrenhäuser, eine Dorfschule, eine Schmiede, zwei Windmühlen, eine Kirche, Ställe und Scheunen und Werkwerkstätten (Sägemühle, Schmiede...)  und das alles auf 22 Hektar Land.
Den Grundstock der Sammlung bildeten goldbestickte Hauben, Glasbilder, Keramik und Haushalts- und Landwirtschaftsgegenstände.

Teodora und Izydor  Gulgowski, ein Dorflehrer und seine Frau, schufen in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in der Kaschubei etwas, das noch heute als ein ein wunderbares Werk und - bei aller Schwierigkeit, seine Essenz auszudrücken - - in der Gemeinschaft der Sozialpädagogen als einzigartig bezeichnet werden kann.

Zitat:
Maria Mende: Radically engaged social pedagogy -
On the currency of the work of Teodora and Izydor Gulgowski, 2019, Universität Gdansk

Teodory i Izydora Gulgowskich 68, 83-406 Wdzydze, Polen

Zu jener Zeit wurden selbsthergestellte Haushaltsgegenstände und selbstverfertigte Kleidung immer seltener, verdrängt von industriellen Waren, die Dorfbevölkerung verarmte und die Landflucht in die Städte tat ihr Übriges. Gleichzeitig jedoch wuchs das Interesse (und die Notwendigkeit), die traditionelle Volkskultur und die tradierten Lebensweisen zu erforschen  und zu erhalten. Teodora und Izydor hatten das gemeinsame Ziel, das ländliche Kunsthandwerk zu erhalten und die Landflucht der Bevölkerung zu stoppen.
Teodora hatte in Berlin, im Lette-Verein, Frauen-Erziehung studiert und so bot es sich an, daß sie nach Möglichkeiten für eine auskömmliche Beschäftigung der jungen Frauen suchte. So erarbeitete sie das Konzept der "farbenreichen Wdzydze Stickerei," die die Ländlichkeit, Folklore und die Kaschubische Kultur widerspiegeln sollte. Motive dafür fanden sich auf Holzmalereien und den goldbestickten Hauben der kaschubischen Frauen: Rosen, Granatäpfel, Tulpen - zu sticken mit Baumwollgarn auf handgewebtem Stoff grauem oder weißem Stoff.

Aus ihrem ursprünglichen Interesse, den jungen Frauen eine Beschäftigung zu verschaffen, um die Langeweile zu vertreiben und den Schönheitssinn zu wecken, wurde schon bald ein größeres Projekt: Die Heimarbeit wurde wiederbelebt, die Frauen konnten mithilfe der Stickerei Geld für den Lebensunterhalt verdienen.
Wurden zuerst nur kleine Deckchen gearbeitet, so erweiterten nun Kissenbezüge, Kleiderkrägen, Kleider, Rücke, dekorative Tücher und Taschentücher das Portefeuille und konnten in größerem Maße verkauft werden.
Aus Heim-Arbeit wurde eine Heim-Industrie, die Produktpalette erweiterte sich: Flechtarbeiten, Spitzenklöppelei und Weberei.
Die Erzeugnisse wurden vor allem in Deutschland unter dem Namen "Sandorfer Hausfleißarbeiten" bekannt, Sandorf ist der deutsche Name für Wdzydze .

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Die florale Stickerei nutzt sieben Farben (rot. rosa, orange, grün, schwarz, gelb, blau) in vielerlei Schattierungen und in der Ausstellung in einem Gebäude des Freiluftmuseums wurden nicht nur die Arbeitshefte und Vorlagensammlungen für die Stickereien gezeigt, sondern auch das Lehrmaterial: die typischen Motive mit den zu verwendenden Farben, Farbkarten mit den Farbnummern der verschiedenen Stickgarn-Hersteller...

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Pani Anna zeigte uns ihre Arbeiten (Goldstickerei auf Samttaschen, Broschen aus Golddraht, Tücher mit den floralen Mustern) und ließ uns auch selbst einige Stiche üben.

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Die floralen Muster sind heute ein Symbol für die Kaschubei und sie werden heutzutage auch in anderen Bezügen eingesetzt, wie die Ausstellung im Hauptgebäude des Museums zeigt: auf T-Shirts, als Maschinenstickerei auf Kleidern und Pferdemützen, als Porzellan-Design (zu bewundern im Film "Die fabelhafte Welt der Amelie"), und auf Hühnerfutter-Säcken; und gestrickt! Ein maschinengestricktes Set aus Schal und Mütze für Kinder...

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So, das wärs erstmal. EIne bibliographische Zusammenstellung über die Kaschubische Stickerei mit Links und weiteren Nachweisen hebe ich mir für einen späteren Beitrag auf.

Mein Dank für diese intensiven Tage in Gdansk und Wdzydze, für die Anregungen und Erlebnisse geht an das Team des Ostsee-Kulturzentrums (Nadbałtyckie Centrum Kultury),  hier besonders an Agniezska Domanska und ihre Kolleginnen, und an das Kaschubische Ethnographische Museum in Wdzydze, benannt nach Teodora und Isidor Gulgowski!