Charlotte Leander, Anweisungen zur Kunststrickerei, 1843

Es war einmal eine arme Frau, die in den Wald ging, um Holz zu lesen. Als sie mit ihrer Bürde auf dem Rückwege war, sah sie ein krankes Kätzchen hinter einem Zaun liegen, das kläglich schrie. Die arme Frau nahm es mitleidig in ihre Schürze und trug es nach Hause zu.

Kätzchen

Kätzchen, By André Karwath via Wikimedia Commons

Auf dem Wege kamen ihre beiden Kinder ihr entgegen und wie sie sahen, daß die Mutter etwas trug, fragten sie: »Mutter, was trägst du?« und wollten gleich das Kätzchen haben; aber die mitleidige Frau gab den Kindern das Kätzchen nicht, aus Sorge, sie möchten es quälen, sondern sie legte es zu Hause auf alte weiche Kleider und gab ihm Milch zu trinken. Als das Kätzchen sich gelabt hatte und wieder gesund war, war es mit einem Male fort und verschwunden.
Nach einiger Zeit ging die arme Frau wieder in den Wald, und als sie mit ihrer Bürde Holz auf dem Rückwege wieder an die Stelle kam, wo das kranke Kätzchen gelegen hatte, da stand eine ganz vornehme Dame dort, winkte die arme Frau zu sich und warf ihr fünf Stricknadeln in die Schürze. Die Frau wußte nicht recht, was sie denken sollte, und dünkte diese absonderliche Gabe ihr gar zu gering; doch nahm sie die fünf Stricknadeln des Abends auf den Tisch.
Aber als die Frau des andern Morgens ihr Lager verließ, da lag ein Paar neue fertig gestrickte Strümpfe auf dem Tisch. Das wunderte die arme Frau über alle Maßen und am nächsten Abend legte sie die Nadeln wieder auf den Tisch, und am Morgen darauf lagen neue Strümpfe da.
Jetzt merkte sie, daß zum Lohn ihres Mitleids mit dem kranken Kätzchen ihr diese fleißigen Naden beschert waren, und ließ dieselben nun jede Nacht stricken, bis sie und die Kinder genug hatten.
Dann verkaufte sie auch Strümpfe und hatte genug, bis an ihr seliges Ende.
[Bechstein: Deutsches Märchenbuch. Deutsche Literatur von Lessing bis Kafka, S. 10159
(vgl. Bechstein-SM, S. 170 ff.), ]