Charlotte Leander, Anweisungen zur Kunststrickerei, 1843

Netzwerktreffen, Tag der Tracht, Konferenzen - ich komme mit vielen interessanten Menschen und deren Themen zusammen. Letztes Jahr nahm ich am "Nordic Knitting Symposium" der Kulturakademie Viljandi teil, und dieses Jahr veranstaltete die Akademie neben dem alljährlichen CraftCamp die Konferenz Studying Traditional Crafts: Goals and Methods in Higher Education.

Die Ankündigung der Konferenz ließ mich aufhorchen, obwohl ich ja selbst nicht in "Higher Education", also an einer Hochschule oder ähnlich gearteten Institution, arbeite.
Ich zähle mich aber zum avisierten Teilnehmerkreis der Veranstaltung:

"We invite to participate scholars, teachers, students, and practitioners. Cultural workers such as artists, craftsmen, and designers interested in developing knowledge in native crafts and its position in today’s society will find models and inspiration at this conference."

Also hatte ich mich angemeldet, denn mich interessieren die Ergebnisse, Methoden und Curricula eines solchen Themas.

  • Wie unterrichtet man traditionelles Handwerk mit welchen Lernzielen in den verschiedensten Institionen?
  • Wo wird immaterielles Kulturgut unterrichtet, wo nicht, wo ist es vergessen?

So wie es den Begriff  "endangered breeds" in der Tierwelt gibt, gibt es auch den Begriff "endangered craft" . Während die gefährdeten Tierrassen aber immer mehr wahrgenommen werden, steht es um die gefährdeten Handwerke und -techniken wahrscheinlich schlechter aus, mir ist keine Liste der endangered crafts bekannt.

Zwei interessante Tage mit Vorträgen, Gesprächen, einem abendlichen Diner und am letzten Abend ein Abendessen im "Felin"-Restaurant (sehr zu empfehlen) mit fröhlichen und animierten Unterhaltungen, ich genieße den Austausch mit interessanten und engagierten Menschen und höre ihnen gerne zu wenn sie über ihr Spezialgebiet sprechen. Mir wird dann oft deutlich, daß gerade dieses Thema gar nicht so randständig ist wie gedacht sondern durchaus mit mir zu tun hat.

Die Konferenz fand im Zentrum für traditionelle Musik auf dem Burgberg statt und es war nur ein kurzer Spaziergang durch die gemütlichen kleinen Straßen Viljandis von der Unterkunft zum Tagungsort.

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Strahlendes Wetter, klare Luft, blauer Himmel und wunderbar gefärbte Bäume - fast noch Oktober und noch nicht November - so kam es mir vor. Direkt am Burgberg liegt auch die schöne St. Johannis-Kirche, deren Glockenspiel am Abend nach dem 18:00-Uhr Läuten die Seele wärmen kann (Guten Abend, gut Nacht...)

Tacit Knowledge - Implizites Wissen - dieser von Michael Polyani geprägte Begriff umschreibt ein Wissen, das man nicht ausdrücken kann - für das man keine Worte hat, das aber trotzdem zur Verfügung steht und zwar nicht kognitiv sondern mental.

Und daraus ergibt sich die Frage wie man dieses Wissen im Bildungsprozeß wecken, nutzen und ausbilden kann.

Hochinteressant.

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In der Wikipedia:

Empirisch wird implizites Wissen ...  in der Regel als Differenzgröße zwischen Können und explizitem Wissen aufgefasst und auch entsprechend gemessen. Es wird einerseits erfasst, was eine Person kann, und andererseits gemessen, was sie berichtbar weiß; gleichsam als Differenz ergibt sich dann, was (nur) implizit „gewusst“ wird. Das artikulierte Wissen muss freilich noch daraufhin geprüft werden, ob es auch tatsächlich handlungssteuernd wirkt oder aber nur in der Befragungssituation geäußert wird.

Alle Vorträge waren sehr "nah an der Praxis" und zeigten Fragestellungen und Herangehensweisen auf. Sollen im Curriculum für die allgemeine Schule weiterhin "Werken" und "Textilunterricht" als Einzelfächer oder als synthetisches Fach festgeschrieben werden, wie vermittelt man Kenntnisse über die verwendeten Handarbeitstechniken an angehende Kulturhistorikern Kuratoren o.ä., die selbst nicht handarbeiten können? Und auf was müssen Schatzsucher auf Shetland über die Funde, die sie mittels ihrer Metalldetektoren aufspüren, wissen, auf was sollten sie achten? Wieviel tacit knowledge findet sich in den Arbeiten lettischer Kunststudenten, obwohl an der Akademie die traditionellen Handwerke gar nicht unterrichtet werden?

Solchen Vorträgen könnte ich ewig zuhören, nur auf einen Vortrag hätte ich gerne verzichtet, den Vortrag über Fischleder und seine Verwendung in der Modebranche, manisch schnell und laut vorgetragen von Elisa Palomino, (Central Saint Martins, University of the Arts, UK), deren Wortschatz zu 25% aus important oder interesting bestand. Mir taten die Ohren weh und die Mode-Industrie ist sowieso nicht mein Ding.
Sehr zugesagt hat mir der Vortrag The specialized vocabulary of craftsvon Marja-Leena Jaanus (University of Tartu, Estonia), die die Ergebnisse Archaeo-linguistischer Forschung auf dem Feld der Handwerks-Termini vorstellte. Mehr zu ihrer Arbeit fand ich auf den Seiten der Kulturakademie, das werde ich noch weiter studieren.

Erstaunlich, daß ich in Estland dieses Jahr mehrfach mit Sprachforschung in Berührung kam, im Jui in Töstamaa und jetzt hier auf der Konferenz.

Ach ja, fast hätte ich es vergessen: Hier noch das komplette Programm der Konferenz.

Und zum Schluß noch ein Schmankerl: Am zweiten Abend wurde im Kondas-Zentrum für Naive Kunst die Ausstellung "In search of National" der Kulturakademie eröffnet und im Eingangsbereich auf einem Tisch lagen zu meiner Freude zwei estnische Hüte und zwei Strickmützen von der Insel Saaremaa zur Anprobe und als Selfie-Kostümierung aus!

Die Strickmütze von der Insel Saaremaa

Kondas Centre for Naive Art