Charlotte Leander, Anweisungen zur Kunststrickerei, 1843

Seit dem Besuch im Schönberger Volkskundemuseum habe ich mich neugierig und intensiv mit dem Biedermeier beschäftigt, der Zeitspanne (ca. 1815 bis 1848), in der die Strümpfe und Musterstreifen entstanden sind.

Und ich habe mir vorgenommen, den Musterstreifens von 1824 nachzuarbeiten und bin dabei schon recht gut vorangekommen.

 

  • ich hatte im Museum alle einzelnen Muster des Streifens fotografiert, Vorder- und Rückseite
  • diese Muster versuche ich nun zu identifizieren: manche sind recht einfach und leicht nachzustricken, manche erscheinen erst recht komplex sind aber einfach zu stricken - ich habe alle Musterbücher gewälzt, die ich im Regal stehen habe oder die ich in die Finger bekam
  • die Muster dann erstmal mit irgendeinem Wollrest nachstricken, und wenn es hinkommt, dann den "Teststreifen" um dieses Muster ergänzen
  • die Musterzeichnung mit Stitchmastery erstellen und pro Muster ein "Datenblatt" mit Foto, Musterzeichnung und Notizen erstellen
  • ich habe verschieden feine Baumwollgarne gekauft, aber noch nicht angestrickt
  • wenn ich so alle Muster des Streifens rekonstruiert habe (mehr als 30!), werde ich alles mit dem feinen Baumwollgarn "ins Reine stricken"
  • und die Notizen zusammenfassen
Musterstreifen aus dem Jahr 1824, Bild von der Seite https://www.museen-sh.de

Musterstreifen aus dem Jahr 1824, Bild von der Seite https://www.museen-sh.de

Direkt nach meiner Rückkehr aus Schönberg habe ich mir das bekannteste Anleitungsbuch aus dieser Zeit, Anweisung zur Kunst-Strickerei. Eine Sammlung von den leichtesten bis zu den schwierigsten Arbeiten ohne Anderer Beihülfe allein ausführen zu können, von Charlotte Leander spendiert. Die gebundene Ausgabe umfaßt 10 der insgesamt 14 erschienenen Bände und einige der darin enthaltenen Hefte kann man mit viel Glück als Digisat in Online-Bibliotheken finden.
Das erste Heft steht auf dem Publikationsserver der Unibibliothek der Goethe-Universität Frankfurt als PDF zum Download bereit.
Die Autorin war sehr praktisch veranlagt, das Büchlein paßt in jeden Strickbeutel!

Anleitung Schuppenrand
Charlotte Leander, Anweisung zur Kunststrickerei, 1843
Strickschrift und Abbildung für Drahdi Muster

ein Beispiel aus dem Band 124 der schönsten ausgewählten Strickmuster aus alter u. neuer Zeit aus dem Jahre 1948, zusammengestellt von Gerda Dörr

"

Die Anleitungen in diesem Buch sind nur geschrieben, einige wenige, den Anleitungen schwer zuordnenbare Illustrationen gibt es zwar, aber wir verwöhnten modernen Strickerinnen brauchen schon arg viel Phantasie um sich für eines der Muster zu entscheiden. Denn erst wenn man es gestrickt hat sieht man was es sein könnte...  und die Namen der Anleitungen, wie beispielsweise der Schuppenrand  geben oft nur vage Hinweise...

Nun gibt es zwar etliche Mustersammlungen aus neuerer Zeit, in denen ich Muster "meines" Streifens fand, wie zum Beispiel die drei Bände Bäuerliches Stricken, die Liesl Fanderl zusammengestellt hat. Erika Eichenseer hat zusammen mit Erika Grill das doch recht bekannte Buch Omas Strickgeheimnisse verfasst, Evelyn Gillmeister-Geisenhof veröffentlichte viele schöne Bücher bei der Trachtenforschungs- und -beratungsstelle des Bezirks Mittelfranken, ,

aber auch diese Bücher erfordern Einarbeitung: die verwendeten Strickschriften sind uns doch sehr ungewohnt. Zum Glück liegen den Büchern oft Karten mit den Symbolerklärungen bei, aber ganz einfach ist es nicht..

Immer wieder bin ich auf die Suche gegangen, habe nach alten Büchern aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts geforscht und bin auch fündig geworden, sowohl digital als auch analog... Namen wie Charlotte Leander, Juliane Pauker, Nanette Höflich wurden mir mehr und mehr vertraut, eine Autorin heißt sogar mit Nachnamen Wolle! (Marianne Wolle, Sammlung der neuesten, schönsten und elegantesten Touren zu Strümpfen, zu finden bei Google Books)

Antonia Kutschera, Neue Strickmuster, 1843

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Antonia Kutschera, Neue Strickmuster, 1843

im  gemütichem Lampenschein fotografiert

Und dann fand ich ein Büchlein einer Autorin, die mir bis dato unbekannt geblieben war: Antonia Kutschera veröffentlichte 1843 in Prag das Bändchen (ebenfalls im Strickbeutelformat) Neue Strickmuster welche sich zu Chemisetten, Krägen und Röcken statt Spitzen, als Ränder zu Strümpfen und als Einsätze bei Ueberzügen eignen und das habe ich auch gleich bestellt.
Weil ich ein Glückspilz bin, fand ich beim ersten Durchblättern auch noch ein wunderzartes kleines Spitzengestrick! Wie alt mag es wohl sein? Wer hat es gestrickt?

Auch Bestellung und Lieferung waren eine Freude, und deshalb empfehle ich hier das Chiemgauer Internet Antiquariat ohne Wenn und Aber

Einen Bericht über die Studien im Volkskundemuseum Schönberg habe ich ja im letzten Beitrag angekündigt und das Museum war hier auf der Wockensolle auch schon öfter Thema. - seine Geschichte, die Veranstaltungen dort, die Schätze im Archiv und die Gefährdung durch den kulturfernen Bürgermeister des kleinen nordwestmecklenburgischen Städtchens.
Immer wollte ich einmal so richtig eintauchen in das Archiv dort und nach etlicher Zeit wurde das ja auch möglich: im Januar verbrachten Franz-Josef Klar, Claudia Krischer und ich zwei intensive Tage im Museum.

wie immer: für eine größere Darstellung auf ein Bild klicken!

Bestens vorbereitet von Christiane Woest erwartete uns ein lichtdurchfluteter Raum mit reichlich Platz zum Auspacken, Bestaunen und Studieren der Originale. Fast 40 Strümpfe und zwei Musterstreifen bekamen wir zu sehen, die meisten aus dem 19. Jahrhundert.

Wir bewunderten eine Tracht mit dem wunderschönen bestickten Brusttuch und einer schwarzen Schürze aus Rehna  und freuten uns über eine Haubenschachtel, die nach der kürzlich erfolgten Restaurierung einen geradezu aktuellen Text über der Illustration zeigte:

Die Katze und der Pudelhund schließen einen Friedensbund.

 

Haubenschachtel aus Schönberg
Musterstreifen aus dem Jahr 1824, Bild von der Seite https://www.museen-sh.de

Zwei Musterstreifen, gestrickt mit feinem Baumwollgarn, fanden sich in den Archiven, unterschiedlich alt. Der älteste Streifen stammt aus dem Jahr 1824, ist also 200 Jahre alt!

Er besteht aus 35 verschiedenen Mustern, ist 2,50m lang und ist aus weißer und roter Baumwolle gestrickt (s.a. die Museumseite im Museumsverbund Nord).
Als ich diesen Musterstreifen sah, entschied ich: Dieser Musterstreifen muss gefeiert werden, ser hat in 200 Jahren nichts von seiner Schönheit verloren, ist vollkommen unbeschädigt und zeigt Muster, die es wert sind studiert zu werden!

Ich liebe diese Musterstreifen, sie waren Lehrbuch und Vorlage für viele junge Frauen, zu einer Zeit als es noch keine Schullehrbücher für den Handarbeitsunterricht gab. Die Lehrerin oder Pfarrersfrau zeigte den Streifen, erklärte die Muster  und die Schülerinnen strickten das nach. Ich habe sogar gelesen, dass in einer Schule im Handarbeitsunterricht eine Schülerin ihren Mitschülerinnen das Muster diktierte und alle es nacharbeiten und auch notieren mussten.

Ich habe ja schon einen Musterstreifen aus dem estnischen Nationalmuseum nachgearbeitet und mir die einzelnen Muster notiert, aber dieser hier stellt mich vor ganz besondere Herausforderungen: etliche der Muster habe ich noch nie gesehen, etliche kenne ich aus den Büchern, die die Muster von Nanette Höflich, Charlotte Leander und Juliane Pauker in die die Gegenwart übertrugen, einige davon habe ich schon gestrickt, aber diese große Anzahl?
Das wird Geduld, Konzentration und viel Üben bedeuten und damit das nicht nur mein Privatvergnügen bleibt: vielleicht stelle ich die Musteranleitungen dann in einer Broschüre zusammen?
Mal sehen!

Der Musterstreifen und das Buch von Charlotte Leander, 1843

Charlotte Leanders' Buch "Anleitungen zum Kunststricken" und der guterhaltene Musterstreifen aus dem Jahre 1886.

Charlotte Leanders Anleitungen zum Kunststricken

Das Museum besitzt auch eine Originalausgabe eines der ersten deutschen Strickbücher: Charlotte Leanders' "Anweisung zur Kunst-Strickerei", das 1843 erstmalig erschien, 14 Hefte, wovon die ersten 10 Hefte dann auch gebunden herausgegeben wurden.
Dieses Buch wurde, wie das Bild zeigt, wirklich genutzt: es enthält eingerissene Seiten, Notizen auf leeren Blättern, Flecken und auch ein paar Kritzeleien.

Für uns bild- und stricktschrift-verwöhnte Strickerinnen sind solche Bücher eine Herausforderung: eine ungewohnte Sprache, wenig Illustrationen und auch viel Wissen, das wie selbstverständlich vorausgesetzt wird, das macht es mir nicht gerade leicht.
Aber ich habe jedes Muster in Großaufnahme photographiert, Vorderseite und Rückseite, und arbeite mich da nun durch.

Charlotte Leander, Anweisung zur Kunststrickerei, 1843

Charlotte Leander
Anweisung zur Kunst-Strickerei. Eine Sammlung von den leichtesten bis zu den schwierigsten Arbeiten ohne Anderer Beihülfe allein ausführen zu können.
Verlag:Erfurt, Hennings und Hopf, 1843.

Bevor ich im nächsten Beitrag die Strümpfe aus dem Museum und die wunderbaren Entdeckungen, die wir im Zusammenhang damit machen konnten, stelle ich hier noch drei Detailaufnahmen dieser wunderschönen Musterstreifen ein.

Nun hat das Neue Jahr begonnen und ich habe meine Themen vom letzten Jahr nicht zu Ende geführt. Aber das ist nicht schlimm, meine Themen werden wohl niemals enden... und ich bleibe dran.

Nun, im vorigen Artikel habe ich den Musterstreifen vorgestellt, den ich mir im Estnischen Nationalmuseum zur Ansicht bestellt hatte. Und bei der Suche im Online-Archiv https://www.muis.ee war ich ja auf einen interessanten, aber mir nicht sonderlich verständlichen Hinweis auf den baltischen Adeligen und späteren russischen Kriegsminister Barclay de Tolly gestoßen. Ich verstand den Zusammenhang zwischen den Handschuhmustern und dem Kriegsminister nicht. Und diese Frage ließ mich nicht los.

Ich habe weiter im Archiv gestochert und bin inzwischen weitergekommen.

Der deutschbaltische Adelige Michael Andreas Barclay de Tolly, 1761 - 1818, den ich im vorigen Beitrag schon vorgestellt habe, hatte wohl während eines Aufenthalts auf dem Gut Enge diese Handschuhe getragen. Oder der Verwalter des Gutes, der dort über 80 Jahre lebte, hat ein Handschuhfragment, das Barclay de Tolly zugeschrieben wurde, an die Gutsherrin Reet Kurrik weitergegeben.

Aber nun weiter!

Kindakatke = Handschuh-Fragment

Dieses Fragment im Estnischen Nationalmuseum ist gerade mal 6.5cm x 4cm groß und wirklich nicht gut erhalten. Der älteste Verweis deutet auf das Jahr 1812, Russland und das Dorf Borodino, nennt als Teilnehmer Barclay de Tolly, Michael Andreas (1761-1818).

Im Jahr 1934 erfolgte dann die geographische Zuordnung "Estland, Suure-Jani, Gemeinde Taevere, Siedlung Enge" und der Vermerk Kui 62 aasta eest pr. Reet Kurrik, tol ajal pr. Iir oma esimese mehega, Jaan Iir, Halliste Penujast, tulnud S-Jaani, ja omaks ostnud Enge mõisa, siis olevat seal elanud üle 80 aasta mõisavalitseja Schulmann, kelle käest saadud käesolev kindaproov järgmise seletusega: kaotatud Borodino lahingu järel läinud Barklai maapakku, elanud Enge mõisas.

Online übersetzt ergibt sich wohl Folgendes: Als vor 62 Jahren Frau Reet Kurrik, damals Frau Ire mit ihrem ersten Mann, Jaan ire, Halliste Penujast, nach Suure-Jaani gekommen ist und Enge vom Herrenhaus gekauft hat, lebte dann dort über 80 Jahre im Herrenhaus (der Verwalter) Schulmann, der diese besondere Probe mit folgender Erklärung erhalten hat: Nach der verlorenen Schlacht von Borodino in den Besitz der Barklai gekommen, lebte in Enge Manor.

Naja.

 kindakatke, ERM A 399:13, Eesti Rahva Muuseum, http://www.muis.ee/en_GB/museaalview/593292

Eesti Rahva Muuseum
Collection Eesti ala etnograafilised esemed
Number ERM A 399:13
Name kindakatke
Nature kindad
Original originaal
Additional numbers peakataloog: A 14; korjamisraamatu number: 609:138
Condition rahuldav
Details: Technique silmuskudumine
Material villane
Measurements laius: 6.5 cm; pikkus: 4.0 cm

kindakirjad, ERM A 115:2, Eesti Rahva Muuseum, http://www.muis.ee/en_GB/museaalview/544958

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Dies ist nun der zweite Musterstreifen von Reet Kurrik aus dem Bestand des Estnischen Nationalmuseums.
Die Archiv-Legende hatte mich ja über die Verbindung zu Barclay de Tolly stutzen lassen und nun kann ich sogar eine Frage beantworten.

Der Sammler nannte 8 verschiedene Muster, tatsächlich scheint es 10 bis 11 Muster zu geben. An einem Ende (welches?) befand sich die Probe von Barklai de Tolls Handschuhen

Barclay de Tollys HandschuhmusterTja, an welchem Ende nun? Dieser Musterstreifen beginnt an einem Ende mit einer Borte, am anderen Ende sind die Maschen nicht abgekettet sondern nur mit einem Faden gesichert.
Also ist das Ende mit der Borte oben und genau dort folgt das Muster, das wir vom Handschuhfragment ja schon kennen.

Das ist wirklich ein hübsches Muster und, als Freundin schneller Entschlüsse, habe ich meinen Plan, den ersten Musterstreifen zu stricken, hintangestellt und gleich diesen Proovilapp / Musterstreifen begonnen.

Die vielen volkskundlichen Bücher über estnische Trachten, die Handarbeitsbücher die ich von meinen Reisen mitgebracht hatte, sie helfen mir bei der Rekonstruktion der einzelnen Abschnitte.
Und so habe ich "zwischen den Jahren" 96 Maschen angeschlagen und stricke gerade den vierten der 12 Musterstreifen (ich zähle nun mal 12 Muster - ohne die Borte). Zu jedem Muster erstelle ich auch eine Strickschrift.

Das dritte Muster von oben habe ich bisher "übersprungen", ich war mir nicht sicher wie die kleinen Zacken des "Diamanten" zu stricken seien, und beim sechsten Muster muß ich ja sicherlich improvisieren, denn auf der Abbildung ist der Musterstreifen hier geknickt und verbirgt so den größten Teil dieses Abschnitts. Auf jeden Fall werde ich bei meinem nächsten Aufenthalt in Tartu im Museum meinen Streifen mitnehmen und vergleichen...

Bei Ravelry kann man den Fortschritt meines Unternehmens en détail verfolgen: https://ravel.me/Wockensolle/bdt

 

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