Ich bin in der letzten Zeit so unerwartet und reich beschenkt worden, ich bekomme übermorgen meine zweite Impfung und um uns herum sprießt die Natur - die Obstbäume blühen, der Raps vergelbt die weite Landschaft und nachts singt sich in meinem Garten der Sprosser, auch pommersche Nachtigall genannt, die Seele aus dem Herzen.
Freunde haben im Nachbardorf ein altes Storchennest renoviert und nun sitzt der einsame Storch darauf; ob er noch eine Partnerin findet? Vielleicht nächstes Jahr, wenn er ihr von dem Prachtbau erzählen kann, den er nun im wahrsten Sinne des Wortes besitzt und "besteht"...
Ich binde zu diesem Feiertag eine armenische Hymne hier ein, "Hripsimeants sharakan - In praise of Hripsimeh", gesungen von Anna Maillian.
Meine Gedanken kreisten viel um Armenien in der letzten Zeit, wegen des erneuten schlimmen Krieges um Berg Karabakh, aber auch wegen der wunderbaren Kultur und den vielen Menschen, die ich dort kennenlernen konnte.
Gestern kam ein kleines Päckchen an, das eine große Überraschung enthielt. Ein unerwartetes Geschenk! Und damit es richtig spannend wird, beschreibe ich die Geschichte um dieses Geschenk in meinem nächsten Beitrag.
Nun, während ich mich auf einen Vortrag über Armenien vorbereitete und diesen am Sonnabend auch gehalten habe, während ich an einer blauen Jacke herumstrickte (will ich die wirklich noch vor meiner Reise fertig haben?) und das Buch "Mittens of Latvia" stück für stück übersetze, hat sich ein Thema eingeschlichen: Stricken in Armenien.
Wird in Armenien gestrickt? Sicherlich! Auf eine besondere Weise? Wer weiß...
Früher hätte ich gewußt, wen ich fragen könnte. Meine liebe Freundin Irina Tigranova hatte auf alles eine Antwort. Sie war Professorin für Musik, die Witwe des Komponisten Avet Terterian, Kobold und Schelm. Sie konnte mir sagen, ob Bronski wirklich Anna Karenina liebt, mit ihr habe ich Lermontow's Gedichte rezitiert, wir haben viel Zeit in Erivan und Arivank miteinander verbracht. Aber gestrickt hat sie seit ihr Sohn groß ist wohl nicht mehr.
Irina Tigranova
Ich kann nicht mehr anrufen und ihr fragend-lachendes "Hallo" hören. Ich kann sie nicht mehr fragen, sie lebt nicht mehr.
Also schaue ich in Bücher. Als ich in Armenien unterwegs war, habe ich in Museen alte Handschriften angeschaut und die Trachten bewundert, aber Gestricktes habe ich nicht wirklich gesehen. Eine Suche im Netz bringt zum Stichwort Armenian Knitting viele Treffer, aber das bedeutet nichts, da geht es immer nur um eine Technik, bei mehrfarbigem Stricken den Faden zu führen, angeblich von einer armenischen Strickerin für eine italienische Mode-Designerin entwickelt... nichts Aufregendes.
In einem Piecework-Heft aus dem Frühjahr 2013 wurden armenische Socken vorgestellt:
Armenische Socken - Piecework Jan/Feb 2013 - Priscilla Gibson-Robert
Aber was ist daran armenisch? Eine armenische Familie aus der Türkei kommend brachte diese Socken Ende des 19, Jahrhunderts mit in die USA, und die Autorin konstatiert: "In Turkey, it was traditional to offer socks to the groom's family. ... The sock was constructed in the classic Islamic manner as found..."
Tja, da hat die armenische Familie wohl eher einen türkischen denn einen armenischen Socken mitgebracht, Armenier sind ja wohl wirklich keine Muslims. Aber ob das amerikanische Autoren wissen? Scheint mir nicht so.
Am Friedhof zu Nouratus sitzen drei alte Frauen. SIe sitzen auf den Grabsteinen, haben in Plastikbeuteln bunte Wolle dabei und stricken. Kaum sehen sie uns kommen, Satenik und mich, legen sie die Stricknadeln beiseite, nehmen jede ihren Packen fertiger Waren - Mützen, Strümpfe, Schuhe, Topflappen - und bieten sie uns an. Erst kaufe ich ein Paar gestrickte Schuhe und Topflappen, wobei mein Blick bereits über das Areal des Friedhofes schweift. Dann gehen wir weiter....
Als ich in Nouratus war, habe ich keine Strickerinnen gesehen. Ein paar Jungs wollten Bonbons haben und fotografiert werden, aber niemand strickte.
Gibt es wirklich keine speziellen armenischen Strick-Traditionen? In meinen vielen Büchern über dieses Land finde ich keinen Hinweis, und meine Irina kann ich ja nicht mehr fragen...
Menschen, die von der gleichen Amme gesäugt wurden, nennt man Milchgeschwister, aber was ist, wenn der Bruder ein Lamm ist?
Das ist die Geschichte des armenisch-polnischen Kurz-Films Mleczny brat / Milky Brother / Mein neuer Bruder des armenischen Regisseurs Vahram Mkhitaryan, der am 30.01. um 00:25 bei arte gesendet wird.
Ein sehnlichst erwarteter kleiner Bruder stirbt und der Junge Seto freundet sich mit einem Lamm an. Das ist die Geschichte, einfach, knapp und sehr emotional.
Inhaltsbeschreibung
Seto ist zehn Jahre alt und lebt mit seiner Familie in einem kleinen Bergdorf in Armenien. Ungeduldig wartet er auf die Geburt eines kleinen Bruders.
Voller Erwartung knüpft er weiße Bänder an die Äste eines Baums in dem Glauben, dass dies die Ankunft seines Bruders beschleunigen wird. Bei der Entbindung kommt es allerdings zu Komplikationen und das Neugeborene stirbt.
Die dadurch entstandene Leere wird gemildert, als die Familie ein verwaistes Lamm bei sich aufnimmt. Die Mutter schließt es schnell ins Herz und stillt es sogar. Setos anfängliche Eifersucht wandelt sich allmählich in Zuneigung.
Auf der Webseite des Films ist ein interessantes Interview mit dem Regisseur über die schwierigen Dreharbeiten und das Fremdsein in fremdem und im eigenen Land.
wie immer: auf die Vorschaubilder klicken.
Durch meine Arbeit für die Musik des armenischen Komponisten Avet Terterian bin ich einige Male nach Armenien gekommen und habe dort sehr intensive Freundschaften schließen können. Ich bin durch das Land gefahren, habe viel sehen dürfen. Die Landschaft in dem Film, die Stimmung, die Stimmen, das Licht, die Lebensbedingungen, das ist mir deshalb vertraut. Einige Wochen haben wir auf dem Land, im Dorf Arivank, im Haus des Komponisten verbracht. Davon berichten meine Fotografien:
Как люб мне язык твой зловещий, Твои молодые гроба, Где буквы - кузнечные клещи И каждое слово - скоба.
Ich hör deine Sprache orakeln, Ich lieb deine Gräber ganz jung, Wo Lettern wie Schmiedezangen ragen Und Wörter wie Spangen - voll Schwung ...
Osip Mandelstam reiste 1930 nach Armenien, durfte nach Armenien reisen. In diesen Monaten tauchte er in die uralte armenische Kultur ein, war fasziniert von Farbe, Klang, Gerüchen, Menschen und eben der Sprache. Eine Sprache, die zum indoeuropäischen Sprachbaum gehört, aber auf einem ganz eigenen Ast. Mit einer eigenen Schrift, deren Buchstaben Ossip Mandelstam im Gedicht Armenien! mit Schmiedezangen vergleicht. Mich verbindet viel mit Armenien. Ich war 1999 zum ersten dort, habe enge Kontakte und Freundschaften.
Plakat in Erivan: Konzert meines Mannes und die Eröffnung meiner Photo-Ausstellung "Chaveli Spirt"
Wir haben dort Konzerte gegeben, ich habe dort mehrere Photo-Ausstellungengehabt. Das obige Plakat aus dem Jahr 2006 wirbt für ein Konzert und die Ausstellungseröffnung im "Club" in Eriwan. Ich habe zwar versucht, die armenische Schrift zu entziffern, die seit dem 5. Jahrhundert besteht und der armenischen Kultur den Zusammenhalt sichert. Aber ich habe nur einige Worte wie Bilder entziffern können, immer wiederkehrende Buchstabenfolgen als Bild ins Gedächtnis gesetzt, Ararat, Sevan, Nairi... Laura Kamian McDermott hat armenische Vorfahren, ihre Familie stammt aus der östlichen Türkei. Als sie das erste Mal nach Armenien reiste, war sie fasziniert von den armenischen Buchstaben. Und setzte die Buchstaben künstlerisch um. Sie strickte Quadrate aus Merino-Wolle, verfilzte sie, schnitt die Buchstaben aus dem Filz und buchstabierte damit die gewichtigen Worte "Bruder, Cousin, Mutter..."
Screenshot von Laura Kamian McDermott: Armenian Alphabet Artwork
Screenshot von Laura Kamian McDermott: Armenian Alphabet Artwork
Sie hat mit dieser Arbeit etwas Erstaunliches geleistet: die typographische Schönheit der Lettern, die starken Farben Armeniens und die schweren Worte, die den Genozid an den Armeniern überstanden haben, zu verbinden.