nein, hier geht es nicht um das Sockenstricken für Soldaten, sondern um Tolstojs ewigen Roman "Krieg und Frieden" von 1868. Liebe, Tod und Stricken sind in der folgenden Szene nahe beieinander. Fürst Andrei ist krank, wird von Natascha gepflegt, welche strickend bei ihm wacht, und wird sich über seine Liebe zu Natascha klar.
Seine Krankheit nahm ihren physischen Verlauf; der Vorgang aber, den Natascha mit den Worten bezeichnete: »Es trat auf einmal das bei ihm ein«, trug sich zwei Tage vor der Ankunft der Prinzessin Marja zu. Zu seinereigenen Überraschung wurde Fürst Andrei sich dessen bewußt, daß er noch Wert auf das Leben legte, in welchem ihm die Möglichkeit der Liebe zu Natascha winkte, und es folgte nun ein letzter seelischer Kampf zwischen dem Leben und dem Tod, wobei der Tod den Sieg davontrug, ein letzter, schließlich überstandener Anfall von Furcht vor dem Unbekannten. Es war am Abend. Er befand sich, wie gewöhnlich nach dem Mittagessen, in einem leichten Fieberzustand, und seine Gedanken waren außerordentlich klar. Sonja saß am Tisch. Er war eingeschlummert. Plötzlich überkam ihn eine glückselige Empfindung.
»Ah, sie muß hereingekommen sein«, dachte er.
Und wirklich saß auf Sonjas Platz Natascha, die soeben mit unhörbaren Schritten ins Zimmer getreten war.
Seit der Zeit, wo sie seine Pflege übernommen hatte, hatte er immer diese physische Empfindung für ihre Nähe gehabt. Sie saß auf einem Lehnsessel, so daß sie ihm die Seite zuwendete und durch ihre Gestalt ihm als Schirm gegen das Licht der Kerze diente, und strickte einen Strumpf. (Sie hatte das Strumpfstricken gelernt, seit Fürst Andrei einmal zu ihr gesagt hatte, niemand verstehe sich so gut darauf, Kranke zu pflegen, wie die alten Kinderfrauen, welche Strümpfe strickten; in dem Strumpfstricken liege etwas Beruhigendes.) Ihre schlanken Finger hantierten schnell mit den Nadeln, die mitunter aneinanderschlugen, und das nachdenkliche Profil ihres herabgebeugten Gesichtes war ihm deutlich sichtbar. Bei einer zufälligen Bewegung, die sie machte, rollte das Knäuel von ihren Knien herunter. Sie schrak zusammen, blickte sich zum Fürsten Andrei um, verdeckte die Kerze mit der Hand, bog sich mit einer behutsamen, geschmeidigen, geschickten Bewegung nieder, hob das Knäuel auf und setzte sich wieder in ihrer früheren Haltung hin. Er betrachtete sie, ohne sich zu rühren, und sah, daß es ihr nach dieser ihrer Bewegung Bedürfnis war, mit ganzer Brust Atem zu holen, daß sie dies aber absichtlich unterließ und recht vorsichtig aus- und einatmete. Im Troiza-Kloster hatten sie über die Vergangenheit gesprochen, und er hatte zu ihr gesagt, wenn er am Leben bliebe, so würde er lebenslänglich Gott für seine Verwundung danken, die ihn wieder mit ihr zusammengeführt habe; aber seitdem hatten sie nie mehr über die Zukunft geredet. »Kann es sein oder ist es unmöglich?« dachte er jetzt, während er sie ansah und auf das leise Klirren der stählernen Nadeln lauschte. »Hat mich das Schicksal wirklich nur darum in so seltsamer Weise wieder mit ihr zusammengeführt, damit ich nun doch sterbe ...? Hat sich mir die Wahrheit des Lebens wirklich nur dazu erschlossen, damit ich doch in der Unwahrhaftigkeit weiterlebe? Ich liebe sie mehr als alles in der Welt. Aber was soll ich dagegen tun, wenn ich sie doch liebe?« sagte er zu sich und stöhnte auf einmal unwillkürlich auf, wie er sich das in seiner Leidenszeit angewöhnt hatte. Sowie Natascha diesen Laut hörte, legte sie den Strumpf auf den Tisch, bog sich näher zu ihm hin und trat, als sie seine leuchtenden Augen bemerkte, mit einem leichten Schritt zu ihm und beugte sich über ihn.
»Sie schlafen nicht?«
»Nein, ich betrachte Sie schon lange; ich fühlte es, als Sie hereinkamen. Niemand gibt mir, wie Sie, diese weiche Stille, dieses Licht. Ich möchtegeradezu weinen vor Freude.« Natascha neigte sich noch näher zu ihm. Ihr Gesicht strahlte vor frohem Entzücken.
»Natascha, ich liebe Sie zu sehr, mehr als alles in der Welt.«
»Und ich?« Sie wandte sich einen Augenblick ab. »Warum denn zu sehr?«
»Warum zu sehr ...? Nun, was sagt Ihnen Ihr Herz, was glauben Sie im
tiefsten Herzen: werde ich am Leben bleiben? Was meinen Sie?«
»Ich bin überzeugt davon, fest überzeugt!« rief Natascha laut und ergriff mit einer leidenschaftlichen Bewegung seine beiden Hände.
Er schwieg ein Weilchen.
»Wie schön wäre das!« sagte er dann, nahm ihre Hand und küßte sie. Natascha war glücklich und erregt; aber sogleich fiel ihr auch ein, daß ein solches Gespräch für ihn nicht gut sei und er Ruhe brauche.
»Aber Sie haben nicht geschlafen«, sagte sie, die Äußerungen ihrer Freude unterdrückend. »Geben Sie sich Mühe einzuschlafen; ich bitte Sie darum.« Er drückte ihr die Hand und ließ sie dann los. Natascha ging wieder zu der Kerze und setzte sich so hin, wie sie vorher gesessen hatte. Zweimal sah sie sich nach ihm um; seine Augen leuchteten ihr entgegen. Sie stellte sich eine Aufgabe an ihrem Strumpf und nahm sich vor, sich nicht eher wieder nach ihm umzusehen, ehe sie diese nicht beendet habe.
Wirklich schloß er bald darauf die Augen und schlief ein. Er schlief nicht lange und erwachte auf einmal, von kaltem Schweiß bedeckt und in großer Unruhe.
Beim Einschlafen hatte er fortwährend an das gedacht, woran er diese ganze Zeit her gedacht hatte: an das Leben und den Tod. Und mehr an den Tod. Diesem fühlte er sich näher.
»Die Liebe? Was ist die Liebe?« hatte er gedacht.
»Die Liebe hindert den Tod. Die Liebe ist das Leben. Alles, alles, was ich verstehe, verstehe ich nur dadurch, daß ich liebe. Alles ist und existiert nur dadurch, daß ich liebe. Alles ist nur durch die Liebe miteinander verknüpft. Die Liebe ist Gott, und wenn ich sterbe, so bedeutet das, daß ich, ein Teilchen der Liebe, zu der gemeinsamen, ewigen Quelle zurückkehre.« Diese Gedanken erschienen ihm tröstlich. Aber doch waren es eben nur Gedanken. Es mangelte ihnen etwas; sie hatten etwas einseitig Persönliches, Verstandesmäßiges an sich; es war keine objektive Augenscheinlichkeit da. So befand er sich denn in Unruhe und Unklarheit. Er schlief ein.