Charlotte Leander, Anweisungen zur Kunststrickerei, 1843

Bevor ich meine lange Sommerreise weiter aufarbeite, ein kurzer Einschub übder ein Projekt, welches mir sehr gefällt und mich sehr freut.
Anu Pink, die Herausgeberin und Leiterin des estnischen Verlages Saara, hat immer gute Ideen. Das habe ich schön einige Male hier auf der Wockensolle dokumentiert: ob es um den Orden der Muhu-Fliege geht oder um die von ihr herausgegebenen Bücher - immer schafft sie neue und wunderbare Dinge, sehr oft auch mit einem kleinem Schabernack dabei.

Ein ganz besonderes Projekt, an dem sie großen Anteil hat, ist der Kudujate Kopiaklubi (Copy-Club)!  Strickerinnen nehmen sich eine Aufgabe vor und setzen diese um.
So haben sie im Jahr 2019 wunderschöne Muhu-Strümpfe gestrickt, die dann im Estnischen Nationalmuseum ausgestellt und mit einem Buch gewürdigt. wurden.

Und jetzt Saara wieder ein neues Projekt präsentiert: Der Kudujate Koopiaklubi hat sich der kleinen Fragmente angenommen, die im Archiv des Estnischen Nationalmuseums aufzufinden waren.
Denn der Zustand des aufgefundenen Fragments, sei es nun ein Rest eines Handschuhes oder einer Socke, sagt ja nichts über den Wert und die Schönheit des Gegenstandes aus!

On those museum shelves there are also items that have been held and mended because someone saw their worth and gathered these tattered remnants into the museums.
KNITTER`S REPRODUCTION CLUB has decided to find among the museums’ possessions these dear and wretched tatters, whose beauty has faded, been torn, or possibly even chewed on. We have invited each other to knit these rags to give them a new life.

Also schlage ich die Web-Seite des Räbala-Projektes auf und was sehe ich?

Unter den 69 Projekten, gleich in der erste Reihe, aber insgesamt zweimal, sehe ich das kleine Barclai-de-Tolly-Fragment aus Suure-Jaani, das blauweiße kleine Wollstückchen mit der interessanten Geschichte, die ich ja auch schon erforscht und bewundert habe und das mich zu manchen Strickereien inspiriert hat! Im Estnischen Nationalmuseeum ist es unter ERM A 399:13 archiviert.

Aber bevor ich in die Einzelheiten gehe, noch ein Hinweis zu den vorgestellten Projekten! Per Klick auf eines der Bilder gelangt man zur Detailseite, auf der dann die Geschichte / Herkunft des Fragments und das daraus entstandene Modell zu finden ist.
Hier also die Links zu den zwei Projekten (alle anderen sind aber ohne Frage ebenfalls wunderbar!)

  • Kaie Kulper schreibt zu ihrem Projekt: «Suure-Jaani ist der Heimatort meiner Großmutter. Meine Großmutter strickte Handschuhe, Socken, Mützen und Hauben für das ganze Dorf und sogar für ihre Nachbarn. In Erinnerung an sie habe ich dieses Stück ausgewählt.»
  • und Thea Ilusmets kommentiert ihre Arbeit: «Das war auch der schönste Rest, wie ich finde. So sind die Handschuhe geworden🙂.»
Webseite des Räbala-Projektes / KUDUJATE KOOPIAKLUBI

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Und was habe ich darüber herausgefunden?

Im Beitrag aus dem Dezember 2019, Im Researchers' Room II - Musterstreifen I, beschreibe ich die interessante Geschichte zweier Sampler aus dem Estnischen Nationalmuseum und deren Herkunft, aus dem kleinen Ort Enge im Kirchsprengel Suure-Jaani. Dabei stelle ich auch Reet Kurrik, die Handarbeitslehrerin, und Barclay de Tolly, den deutsch-baltischen General und vermeintlichen Besitzer des kleinen Handschuhrestes aus dem Museum (ERM A 399:13), dessen Muster in dem zweiten Musterstreifen enthalten ist.

Musterstreifen ERMA115_2_1

kindakirjad, ERM A 115:2, Eesti Rahva Muuseum, http://www.muis.ee/en_GB/museaalview/544958

Und im zweiten Beitrag vom 2. Januar 2020, Im (virtuellen) Researchers’ Room II – Musterstreifen II, komme ich dann auf viele Details zu dem kleinen blauen Wollfragment, die ich inzwischen herausgefunden hatte, zu sprechen.

Meine Projekte mit diesem Muster

Zuerst einmal hatte ich die Muster, die ich ja im Museum fotografieren konnte, ausgezählt und Charts angefertigt. Und dann habe ich mit viel Genuß den zweiten Musterstreifen mit Schafswolle (Teksrena) gestrickt, 96 Maschen in der Runde.
Dabei habe ich mich allerdings nicht ganz an die Mustereihenfolge des Originals gehalten.

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estnisches Muster, ERM ERM A 399:13
Mütze Suure-Jaani mit Muster ERM A 399:13

Dieses Muster stricke ich immer wieder gerne, es hat so etwas "Rundes", ist so harmonisch und klar. Allerdings habe ich nicht wie die Damen aus Estland Handschuhe gestrickt, sondern eine Mütze und Socken.

Socken mit Barclay-Muster

Ach ja, ein anderes Projekt der Copy-Club-Damen zeigt ein Muster, ebenfalls aus Suure-Jaani, und wieder von Kaie Kulper  und auch von Merike Saaremets gestrickt: das Fragment VM 3133 E249:1.

Das Muster findet man im gesamten Ostsee-Raum und anderswo, in Lettland heißt es "Maras Kreuz".

Und dieses Muster habe ich auch schon untersucht, denn es gleicht dem Muster aus dem Altarraum der Kirche in Gützkow! Diese Geschichte findet man hier

Das Muster von der Kirchenwand in Gützkow

Das Muster von der Kirchenwand in Gützkow

Fragment aus Suure-Jaani, ERM VM VM 3133 E 249
Meine Stulpen

Mir macht das Projekt des Copy-Clubs viel Freude und es zeigt mir, wieviel Schönes ich schon gesehen, studiert und auch gestrickt habe.

Nach Estland und in Estland kann man gut mit dem Bus reisen, aber ich hatte etwas Pech: Für die Fahrt von Riga nach Tartu hatte ich für den Umstieg in Pärnu eine halbe Stunde eingerechnet und das reichte nicht, denn schon kurz nach Riga machte der Busfahrer einen längeren Stopp und hinter der estnischen Grenze wurde der Bus angehalten und Polizisten kontrollierten die Papiere, aber mein Personalausweis und der Covidpass waren in Ordnung. Der Anschluss-Bus aber in Pärnu war schon weg... also noch eine Karte kaufen und dann gings über Land. In Viljandi wurde mir doch wehmütig ums Herz, warum nicht hier aussteigen und am CraftCamp teilnehmen? Ach, diese verdammte Pandemie, die schönen Dinge leiden am meisten... und immer wieder tröste ich mich: "Nächstes Jahr... dann aber auf jeden Fall!"

Nun denn, in Tartu fand ich Unterkunft im finnisch-estnischen Gästehaus unter dem Dachjuhe und genoß trotz der gruselig-steilen Treppen mein hübsches Zimmer und den Ausblick aus dem Dachfenster auf das kleine gemütliche Häuschen. Ich spazierte durch die Stadt, lachte über das Radfahrverbot für Katzen und trotzte dem grauen Himmel.

Das Ziel meines Aufenthaltes in Tartu war, wie schwer zu erraten, der "Researchers`Room" im Estnischen Nationalmuseum (ERM). Schon letztes Jahr hatte ich eine Liste mit Objekten zusammengestellt, die ich gerne sehen und studieren wollte, aber daraus wurde damals nichts. Jetzt  aber lagen die Kartons mit den Objekten der Begierde vor mir auf dem Tisch: noch einmal die 2 blauen Musterstreifen von Reet Kurrik (einen davon habe ich ja schon nachgearbeitet), ein weiterer Sampler und einige wirklich bizarre Handschuhfetzen sowie das kleine Fragment der Original-Handschuhe von Barclay de Tolly (dazu gibt es zwei ältere Beiträge hier auf der Wockensolle: Im Reseachers Room I und Im Researchers`Room II) und dann noch drei winzige Müsterchen. Jedes der Objekte trägt ein Leinenetikett mit Archivnummer und Herkunftsangabe.
ERM Research
Ich habe zum Vergleich meinen Musterstreifen / Proovilapp mitgebracht und beide nebeneinander gelegt. Meine Wolle ist dicker als das Originalgarn, deshalb ist mein Streifen größer und ich habe zwar nicht die Musterreihenfolge fest eingehalten, aber alle Muster gestrickt. Diesen Winter werde ich dann wohl die anderen Musterstreifen auch noch stricken, aber erst einmal muß ich dafür die Muster nachzeichnen.

Die anderen Objekte zeige ich in der nachstehenden Galerie:

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Am letzten Tag in Tartu traf ich mich noch mit Mathilde Frances Lind, die schon seit nunmehr drei Jahren in Estland lebt und an ihrer Doktorarbeit sitzt. Wir kennen uns vom Craft Camp und es tat uns gut, uns in angenehmer Athmosphäre im Hof des weltberühmten Café Werner zu unterhalten. Und dann kamdie Meldung in Facebook, daß Mathilde nun zum zweiten Mal mit der "Estophilus Scholarship" der Archimedes Foundation für Ihre Studien ausgezeichnet wurde. Herzlichen Glückwunsch, Mathilde!
Und dann fuhr ich schon wieder zurück an die Westküste. Eine Übernachtung in der hübschen Stadt Pärnu, in einem romantischen Holzhaus-Hotel, dem Koidula-Park-Hotel, benannt nach dem Koidula-Park, der nach der Dichterin Lydia Koidula benannt ist, Ein hübscher Park, dominiert von dem Denkmal für diese interessante Frau.
Hier habe ich einige Zeit in der Sonne gesessen, habe ein wenig Inlay-Technik-Stricken geübt und vor mich hingesummt.
Pärnu Koidula Park
Den Abend beschlossen habe ich mit einem Gang durch die Budenstrasse der "Zunfttage von Pärnu", die von der Maarja-Magadalena-Gilde organisiert werden. Kunsthandwerk: Holz, Leder, Keramik, Naturkosmeti, Wurst und Honig, Weberei - groß war das Angebot aber für mich war nichts dabei.
Amüsiert habe ich ich über die lustigen Schweine und Busen, aber sowas paßt nun wirkllich nicht ins Fluggepäck. der Musik, leichtem Sommerpop, habe ich dann einige Zeit gelauscht.

Und heute morgen eine kurze Stippvisite ins Uue Kunsti Muuseum / Museum of New Art, dort läuft zur Zeit eine Ausstellung zum Thema "Mann und Frau - die Kraft und der Geist der estonischen Frauen" und eine Foto-Ausstellung. Irgendwie habe ich nie genug Zeit für dieses Museum, aber dieses Mal habe ich wenigsten einen kleinen Einblick nehmen können.

Einer der Gründer und heutiger Vorstand ist der umtriebige Dokumentarfilmer Mark Soosaar, der auf der kleinen Insel Manija lebt und auch ein Filmchen über das Leben dort in den Zeiten der Quarantäne gedreht hat. Mark Soosaar trägt immer einen Kihnu-Pullover und in diesem Film ist sogar noch eine ganz spezielle Kihnu-Mütze zu sehen. Die muss ich mir nochmal genauer anschauen!

 

KRANTIIN/QURANTINE 2020

This video is about COV-quarantine on Manija Island in Estonia. The community of 30 souls spent two month in virus free paradise. Only one lamb was born with a mask. Thanks to quarantine a miracle took place: the little Kiisu was born from marriage of the sheep Oinar and goat Kammu.
Be healthy and wealthy!
Mark Soosaar,
the author of short doc Quarantine

Und dann holte mich heute mittag Riina in Pärnu ab und wir fuhren langsam auf die Insel Saaremaa. Gemächling ging es auf über Land mit einem Stop im Handarbeitsgeschäft von Töstamaa, einem Geschäft, das mir schon von einem CraftCamp-Ausflug in guter Erinnerung geblieben war. Und wie verführerisch lockten die Angebote. Wer mich kennt, weiß dass ich nicht widerstehen kann. Nein, keine der schönen Handschuhe, die waren mir zu klein, aber ein Paar Daumen-Stulpen, allerfeinst gestrickt mit Schlaufenbündchen und Roositud - Inlay-Muster. Wer mehr darüber wissen möchte, klicke hier!

Die nächsten Tage werden auch wieder aufregend, ich freue mich auf die Zeit mit Riina Tomberg!

Ich habe ja schon über die schöne Ausstellung im Nationalmuseum in Tartu berichtet, in dem alle Strickerinnen mit ihren wunderbaren Strümpfen vorgestellt werden. Hier noch ein Film vom estnischen TV, in dem auch Anu Pink, die Initiatorin dieser Aktion, vorgestellt wird.

Der komplette Artikel zu diesem Film findet sich auf der estnischen Webseite kultur.err.ee und wenn man diese Seite im Chrome-Browser öffnet, kann man sich den Text automatisch in gutes Deutsch übersetzen lassen.

Ein Auszug:

Im Estnischen Nationalmuseum können Sie die weltweit größte Ausstellung von Muhu-Socken sehen, die 70 historische Socken zeigt, die in Museen gefunden wurden. Für diese Ausstellung wurden jedoch auch 84 völlig neue Paar Socken hergestellt.

PS: Den Katalog zur Ausstellung kann man bei Saara.ee bestellen! Jetzt ist er auch auf der englischsprachigen Shop-Seite zu finden.
Der Katalog ist wunderschön, und ich habe auch einige Freundinnen unter den Strickerinnen entdeckt...

Nun habe ich den Sampler schon eine Weile fertiggestrickt, alle 12 Muster gezeichnet und gestrickt und dabei kann es ja nicht bleiben.
Deshalb versuche ich mich jetzt an einem Paar Socken mit dem ersten Muster, das mir so besonders gut gefällt, und mit "echtem" Garn für solche Unterfangen, dunkelblaues und naturweißes Garn, HEA 10/2, und dazu Nadeln in der Stärke 1,75mm.
Im wahrsten Sinne des Wortes habe ich mich festgestrickt, ich hoffe daß die Socken nach dem ersten Bad etwas weicher und luftiger werden.

Dieses Vorhaben stellt mich auch vor Herausforderungen, bei denen ich all mein Können zusammenkratzen muss. "Wie strickt man die Ferse, wenn der ganze Strumpf mit einem Rundherum-Muster gearbeitet wird, ich aber jetzt nur auf 2 Nadeln die Fersenmaschen habe?" und weitere .. Ich denke dass ich das ganz gut hinbekomme und werde das hier dann auch zeigen.

Ich stecke aber auch gerade in einem "unproduktiven" Loch, so kommt es mir jedenfalls vor. Meine beste Freundin ist gestorben und ich kann das einfach nicht verstehen, da ist plötzlich ein Mensch nicht mehr da, man hört seine Stimme nie wieder, kann nie mehr zusammen Probleme wälzen oder Musik hören, es ist ungerecht. Ich möchte mich am liebsten verkriechen aber zum Glück gibt es immer noch ein paar Aufgaben und Beschäftigungen, die mich ablenken können.
So plane ich gerade Reiserouten und Unterkünfte für 2 Sommerreisen nach Estland (vor und nach dem Craft Camp) und nach Lettland, und habe auch die Anleitung für die Piecework-Pottmütze fertiggestellt. Jetzt kommt der Artikel dazu an die Reihe. Ich kann mich also doch ablenken. Und wenn das Sockenstricken zu anstrengend wird gibt es immer noch ein Stashbuster-Tuch auf den Nadeln..

Der estnische Musterstreifen hat mich ganz schön am Wickel, inzwischen sind alle 12 Muster gezeichnet und 11 Muster gestrickt, heute beginne ich mit dem 12. Muster, dann habe ich den ersten von insgesamt drei mir bekannten Musterstreifen aus dem Estnischen Nationamuseum fertig. Das Studieren der Vorlage ist wie eine Zeitriese und oft ertappe ich mich bei Vermutungen, warum zum Beispiel an einer bestimmten Stelle Frau Reet Kurrik doch ein wenig geschlampt hat. Einige kleinere Fehler habe ich entdeckt und in meinen Zeichnungen korrigiert, wenn ich nun auch noch die Fehler, die ich hineingebracht habe, korrigiere, dann wäre es perfekt.

Das war der Zwischenstand am 14. Januar, 7 Muster waren fertig. Die Abbildung aus dem Museum zeigte ja nicht alle Muster, 2 Muster waren nur zu erahnen, da der Streifen zum Photographieren geknickt wurde.
Deshalb fragte ich Mathilde Frances Lind, die ihre Doktorarbeit in Estland schreibt und oft im Nationalmuseum forscht, ob sie den Streifen für mich photographieren könne. Und das hat sie auch getan. Ich habe mich sehr darüber gefreut. Denn jetzt habe ich alle Muster zusammen...

Wie ernsthaft und wunderbar Mathilde die estnischen Techniken studiert, kann man in ihrem Blog nachlesen und bewundern. "Tiny Stitches" nennt sie ihre Arbeit und das sind wahrlich winzige Stiche, es braucht schon Übung.

Ich habe die ersten Strickschriften zusammen mit Photos auch in mein Ravelry-Projekt hochgeladen, es mir dann aber anders überlegt. Dieses Nacharbeiten und Hineindenken in die Arbeit einer Frau, die vor rund 170 Jahren diesen Sampler zusammenstellte, macht mir und vielen Anderen, denen ich mein Projekt zeige, soviel Freude, daß ich ein kleines Büchlein erstellen werde, in dem ich die drei Sampler, die darin enthaltenen Muster und auch Hintergrundinformationen zusammenfassen werde. Jeden Tag sitze ich auch vor meinem Bücherregal und blättere meine gesammelten estnischen Handarbeitsbücher durch, um mehr zu erfahren. Oder zu sehen, ob und wie diese Muster auch im wirklichen Leben genutzt wurden.
Es dauert also noch ein wenig bis ich die Strickschriften alle herausrücke!

Es gibt aber noch mehr zu berichten.
Letzte Woche habe ich wieder meinen Vortrag Reisen und Stricken im Baltikum gehalten, diesesmal im Pfarrhaus in Horst. Und selbstverständlich bringe ich dann auch immer Gestricktes und Gesammeltes mit und ich bin auf großes Interesse gestoßen. Es war ein schöner Abend, Danke nach Horst!

Am Freitag dann fand der zweite Demminer Strickmarathon statt. Und 20 Teilnehmerinnen waren gekommen, inzwischen sind rund 30 Laternen-Bezüge gestrickt! Ich habe mir eine Wimpelkette vorgenommen, die zwischen Bäume oder über einen Weg gespannt werden kann, und Heinz wird ein Banner gestalten. Mehr über dieses Treffen und weitere Termin sind auf der Facebook-Seite des Café 3K Demmin zu finden.

Ja, und jetzt am Montag habe ich einen Vertrag mit der amerikanischen Zeitschrift Piecework unterschrieben, für das Herbstheft 2020 werde ich einen Artikel über die pommersche Pottmütze schreiben und die Anleitung ins Englische übertragen. Das wird mich jetzt einige Zeit beschäftigen und freut mich sehr.

Da ärgere ich mich dann auch nicht, wenn mir eine Rechnung eines Hamburger Rechtsanwaltsbüros ins Haus flattert, eine Rechnung über die ungenehmigte Nutzung eines Photos der französischen Agentur AFP. Da habe ich vor fünf Jahren nicht aufgepaßt. Die Rechnung bezahle ich und das Bild entferne ich. Und passe in Zukunft besser auf.

 

 

 

Nun hat das Neue Jahr begonnen und ich habe meine Themen vom letzten Jahr nicht zu Ende geführt. Aber das ist nicht schlimm, meine Themen werden wohl niemals enden... und ich bleibe dran.

Nun, im vorigen Artikel habe ich den Musterstreifen vorgestellt, den ich mir im Estnischen Nationalmuseum zur Ansicht bestellt hatte. Und bei der Suche im Online-Archiv https://www.muis.ee war ich ja auf einen interessanten, aber mir nicht sonderlich verständlichen Hinweis auf den baltischen Adeligen und späteren russischen Kriegsminister Barclay de Tolly gestoßen. Ich verstand den Zusammenhang zwischen den Handschuhmustern und dem Kriegsminister nicht. Und diese Frage ließ mich nicht los.

Ich habe weiter im Archiv gestochert und bin inzwischen weitergekommen.

Der deutschbaltische Adelige Michael Andreas Barclay de Tolly, 1761 - 1818, den ich im vorigen Beitrag schon vorgestellt habe, hatte wohl während eines Aufenthalts auf dem Gut Enge diese Handschuhe getragen. Oder der Verwalter des Gutes, der dort über 80 Jahre lebte, hat ein Handschuhfragment, das Barclay de Tolly zugeschrieben wurde, an die Gutsherrin Reet Kurrik weitergegeben.

Aber nun weiter!

Kindakatke = Handschuh-Fragment

Dieses Fragment im Estnischen Nationalmuseum ist gerade mal 6.5cm x 4cm groß und wirklich nicht gut erhalten. Der älteste Verweis deutet auf das Jahr 1812, Russland und das Dorf Borodino, nennt als Teilnehmer Barclay de Tolly, Michael Andreas (1761-1818).

Im Jahr 1934 erfolgte dann die geographische Zuordnung "Estland, Suure-Jani, Gemeinde Taevere, Siedlung Enge" und der Vermerk Kui 62 aasta eest pr. Reet Kurrik, tol ajal pr. Iir oma esimese mehega, Jaan Iir, Halliste Penujast, tulnud S-Jaani, ja omaks ostnud Enge mõisa, siis olevat seal elanud üle 80 aasta mõisavalitseja Schulmann, kelle käest saadud käesolev kindaproov järgmise seletusega: kaotatud Borodino lahingu järel läinud Barklai maapakku, elanud Enge mõisas.

Online übersetzt ergibt sich wohl Folgendes: Als vor 62 Jahren Frau Reet Kurrik, damals Frau Ire mit ihrem ersten Mann, Jaan ire, Halliste Penujast, nach Suure-Jaani gekommen ist und Enge vom Herrenhaus gekauft hat, lebte dann dort über 80 Jahre im Herrenhaus (der Verwalter) Schulmann, der diese besondere Probe mit folgender Erklärung erhalten hat: Nach der verlorenen Schlacht von Borodino in den Besitz der Barklai gekommen, lebte in Enge Manor.

Naja.

 kindakatke, ERM A 399:13, Eesti Rahva Muuseum, http://www.muis.ee/en_GB/museaalview/593292

Eesti Rahva Muuseum
Collection Eesti ala etnograafilised esemed
Number ERM A 399:13
Name kindakatke
Nature kindad
Original originaal
Additional numbers peakataloog: A 14; korjamisraamatu number: 609:138
Condition rahuldav
Details: Technique silmuskudumine
Material villane
Measurements laius: 6.5 cm; pikkus: 4.0 cm

kindakirjad, ERM A 115:2, Eesti Rahva Muuseum, http://www.muis.ee/en_GB/museaalview/544958

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Dies ist nun der zweite Musterstreifen von Reet Kurrik aus dem Bestand des Estnischen Nationalmuseums.
Die Archiv-Legende hatte mich ja über die Verbindung zu Barclay de Tolly stutzen lassen und nun kann ich sogar eine Frage beantworten.

Der Sammler nannte 8 verschiedene Muster, tatsächlich scheint es 10 bis 11 Muster zu geben. An einem Ende (welches?) befand sich die Probe von Barklai de Tolls Handschuhen

Barclay de Tollys HandschuhmusterTja, an welchem Ende nun? Dieser Musterstreifen beginnt an einem Ende mit einer Borte, am anderen Ende sind die Maschen nicht abgekettet sondern nur mit einem Faden gesichert.
Also ist das Ende mit der Borte oben und genau dort folgt das Muster, das wir vom Handschuhfragment ja schon kennen.

Das ist wirklich ein hübsches Muster und, als Freundin schneller Entschlüsse, habe ich meinen Plan, den ersten Musterstreifen zu stricken, hintangestellt und gleich diesen Proovilapp / Musterstreifen begonnen.

Die vielen volkskundlichen Bücher über estnische Trachten, die Handarbeitsbücher die ich von meinen Reisen mitgebracht hatte, sie helfen mir bei der Rekonstruktion der einzelnen Abschnitte.
Und so habe ich "zwischen den Jahren" 96 Maschen angeschlagen und stricke gerade den vierten der 12 Musterstreifen (ich zähle nun mal 12 Muster - ohne die Borte). Zu jedem Muster erstelle ich auch eine Strickschrift.

Das dritte Muster von oben habe ich bisher "übersprungen", ich war mir nicht sicher wie die kleinen Zacken des "Diamanten" zu stricken seien, und beim sechsten Muster muß ich ja sicherlich improvisieren, denn auf der Abbildung ist der Musterstreifen hier geknickt und verbirgt so den größten Teil dieses Abschnitts. Auf jeden Fall werde ich bei meinem nächsten Aufenthalt in Tartu im Museum meinen Streifen mitnehmen und vergleichen...

Bei Ravelry kann man den Fortschritt meines Unternehmens en détail verfolgen: https://ravel.me/Wockensolle/bdt

 

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Asche auf mein Haupt, es ist nun schon eine ganze Weile her, daß ich über meinen Besuch im Researchers’ Room des Estnischen Nationalmuseums in Tartu schrieb. Aber eben nur ein wenig schrieb, denn ich war auf dem Sprung nach Demmin. Und die Zeit vergeht so schnell mit so vielen unnötigen oder ungeliebten Tätigkeiten (Webseiten vor Spam und Hack-Attaken schützen und andere unerfreuliche Dinge), daß mir der Beitrag aus dem Fokus geraten ist.
Aber das hole ich jetzt nach, denn der Besuch dort hat mich doch sehr beeindruckt.

Meine Studienobjekte

Ich hatte, wie schon geschrieben, zwei unbekannte Objekte zur Ansicht gewünscht und damit sich der Besuch dann auch wirklich lohnt, falls diese Teile doch recht unergiebig sein sollten, noch 2 Paar Strümpfe mit travelling stitches.
Und so kam ich in den Raum, auf einem Tisch waren meine Objekte für mich ausgebreitet, ich trug mich in eine Liste ein und wurde belehrt, daß ich nur mit Bleistift schreiben dürfe... das leuchtete mir sofort ein, Tinten- oder Kugelschreiberflecke müssen verhindert werden.

Es herrschte eine ruhige Arbeitsathmosphäre, eine Dame nahm die Maße einer Bluse ab, ein Mann saß an einem Computer und mehrere junge Frauen studierten Handschuhe und als ein Kleiderständer mit Kleidern von der Insel Muhu in den Raum gerollt wurde, ging ein Raunen und ein Lachen durch den Raum. Wer so arbeiten kann, mit soviel Freude und Konzentration..

Und ich ging nun daran, das weißblaue Strickstück zu studieren. Ich habe es vermessen, die Maschen gezählt und Detailaufnahmen genommen, denn vielleicht stricke ich diese Muster alle einmal nach?

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Das Museumsobjekt

Das Anhängsel am unteren Rand

Das alte Archvierungsetikett

Reet Kurrik uurimas rahvarõivaid - Reet Kurrik, Volkstrachten studierend
Das Foto habe ich von Anu Pink erhalten, es stammt auch aus dem Museum

Das erste Bild stammt von der Webseite der estnischen Museen Muis.e (kindakirjad, ERM A 399:12, Eesti Rahva Muuseum) und zeigt das komplette Objekt.

Es handelt sich um einen 56cm langen rundgestrickten Schlauch, Umfang 9cm, mit insgesamt 12 verschiedenen Mustern. Wegen der Form und dem eigenartigen Anhängsel am unteren Rand vermutete ich ja, daß es sich hier um einen Beinstulpen handeln könnte. Aber wie immer ist alles viel einfacher und anders. Es ist ein Musterstreifen mit 12 Handschuhmustern und das Anhängsel wurde später hinzugefügt, wohl damit es nicht verlorengeht.
Mir fiel auf, daß dieser Streifen nicht fertig gestrickt ist, die letzte Reihe wurde nicht abgekettet, die Maschen wurden auf einen Faden gezogen, wohl um immer weitere Muster anfügen zu können.

Ich habe mir vorgenommen, davon mal eine Strickschrift anzufertigen.

 

 

Aber wer hat diesen Musterstreifen angefertigt? Ich kann ja kein Estnisch und verstehe deshalb die nicht übersetzten Objektbeschreibungen auf der Museumsseite nicht. Deshalb habe ich Anu Pink gefragt und sie hat mir auch Auskunft geben können:

Ich schreibe in Deutsch, weil ich in Englisch noch schlechter bin :)
Leider habe ich kein besseres Foto von diesem Handschuhe Muster, aber ich sende dir ein Foto, wo ist Reet Kurrik. Sie hat diese Musterprobe Beginn des 20. Jahrhunderts gestrickt.
Reet Kurrik (1849-1948) war der Besitzer des Herrenhauses in Enge (in der Nähe von Suure-Jaani) und sie hat einer der ersten estnischen Handwerksschulen gegründet. Er war auch ein großer Sammler und Förderer nationaler Muster. Diese Muster hat sie aus Suure-Jaani gesammelt und diese musterprobe auch selbst gestrickt (Beispiel für ihre Schüler). In diesem Bereich gibt es keine Daten zum Tragen von Leggings.
Wenn Du wirklich ein besseres Foto wünscht, kannst du das elektronisch bei ERM kaufen (es kostet ~2 euro).

Stricken ist das beste Hobby der Welt!

Mit Herzliche Grüße
Anu aus Türi

Reet Kurrik war also eine Pionierin der Textilforschung und sie beherrschte und dokumentierte verschiedene Handarbeitstechniken. So sind in der Sammlung des Estnischen Nationamuseums auch Brettchen für das Bandweben und einige gewebte Bändchen erhalten.

Sie lebte auf dem Gut Ängi  in Suure-Jani, nicht weit von Olustvere, wo ich ja einige Male beim Craft Camp gewesen bin. Auf der Estnischen Museumsseite kann man nach ihren Namen suchen und erhält 12 Treffer.
Das hätte ich mal tun sollen, denn dann hätte ich auch den 2. Musterstreifen, der noch besser erhalten ist, entdeckt. Und den ich jetzt wohl bei einem späteren Besuch im Nationalmuseum betrachten werde...

Und jetzt wird es noch interessanter - der zweite Musterstreifen, 10cm im Umfang und 89 cm lang, scheint sogar sogar besser erhalten. Die Beschreibung dieses Objekts:
"Korjaja teatel 8 eri kirja, tegelikult näib olevat 10-11 kirja. Ühes otsas (kumbas?) olla Barklai de Tolli kinnaste proov, missuguseid ta liulaskmise juures olla tarvitanud. Barklai de Tolli elanud Enge mõisas 100 a tagasi 20 a vanusena."

Ich habe die verschiedensten online-Übersetzer ausprobiert und die Ergebnisse sind nicht unbedingt "sinnhaftig".

Eine Mischung aus allen Übersetzungen (deutsch und englisch ausprobiert) ergibt ungefähr dies:

Es wird von 8 verschiedenen Mustern berichtet, tatsächlich aber sieht man 10 oder 11 Muster. An einem Ende (kumbas?) vermutet man das Musterbeispiel der Handschuhe Barklai de Tollis, die er beim Schlittenfahren trug. Er lebte vor 100 Jahren im Alter von 20 Jahren im Herrenhaus Enge.

Ich drösele die Information von der Museumsseite mal auf:

  • Barklai de Tolli => Barclay de Tolly war ein deutsch-baltischer Aristokrat mit schottischen Wurzeln und stammt aus Livland. Er ging früh zur Armee und wurde später russischer Kriegsminister. Er führte das russische Heer gegen Napoleon und besiegte die französische Armee mit seiner Taktik der verbrannten Erde.  s. Wikipedia, https://de.wikipedia.org/wiki/Michael_Andreas_Barclay_de_Tolly
    (Letztendlich wurde er von General Michail Kutusov abgelöst, der als Sieger über Napoleon in der Schlacht von Borodino in die Geschichte einging)
    Es scheint daß er in seiner Jugend einige Zeit auf dem Gut Enge gelebt hat.
  • Herkunft: Eesti Suure-Jaani; mõis Enge => Estland, Gemeinde Suure-Jaani, Herrenhaus Enge
  • koguja: Tomp, Karl => Sammler: Karl Tomp
  • üleandja: Kurrik, Reet => Überbringer: Reet Kurrik
  • seosisik: Barclay de Tolly, Michael Andreas (1761-1818), sõjaväejuht => Bezug zur Person Barclay de Tolly, Michael Andreas (1761-1818), Militär
  • valmistaja: Kurrik, Reet => Ausführende: Reet Kurrik
  • 1850 -1920, silmuskudumine => 1850 - 1920, Stricken

Ich reime mir also zusammen, daß es Handschuhe des jungen Adeligen gegeben haben muß, deren Muster von Reet Kurri aufgeschrieben und nachgeschrieben wurde.
Ich bleibe dran und frage nach, ob ich eine wirklich brauchbare Übersetzung bekommen kann. Aber wieder einmal faszinierend auf welche Verbindungen man stößt wenn man versucht genauer hinzuschauen.
Ich war ja schon bei meinem Besuch in Töstamaa im Sommer auf einige Querbeziehungen gestoßen und jetzt diese faszinierende Geschichte!

Der 2. Musterstreifen und die zwei Strumpfpaare kommen dann noch später an die Reihe.. Es bleibt spannend!

Ein Foto von Reet Kurri und ihrem Gatten (Jaan Iir ja Reet Iir - Kurrik Halliste - Penujas (teist korda oli abielus hr. J. Kurrikuga, end. Enge ms. omanikud), ERM Fk 1065:18, Eesti Rahva Muuseum, http://www.muis.ee/en_GB/museaalview/698293)

Porträt Michael Andreas Barclay de Tolly, deutsch-baltischer Offizier sowie russischer General und Kriegsminister