Charlotte Leander, Anweisungen zur Kunststrickerei, 1843

"Darum brauchst du mich nicht zu bitten," sagte das Schaf. "Ich habe sie nicht hingegeben und werde sie auch nicht wegnehmen."

"Nein, aber ich habe gedacht, wir könnten ein wenig anhalten und welches pflücken," bat Alice, "wenn es Ihnen nichts macht, das Boot ein bißchen stehen zu lassen."

"Wie soll ich es stehen lassen? Wenn du aufhörst zu rudern, wird es von selbst stehen bleiben."

So ließen sie das Boot eine Strecke gleiten, bis es sanft in die wiegenden Binsen hineinfuhr. Dann rollte Alice ihre Ärmel sorgfältig auf und ihre Arme gingen tief ins Wasser, um die Binsen recht tief unten anzufaßen, bevor sie sie pflückte. Für eine Zeit vergaß Alice das Schaf und das Stricken, als sie sich über den Bootrand neigte und die Enden ihres wirren Haares ins Wasser tauchten. Mit glänzenden Augen fing sie ein Büschel nach den andern von den geliebten Binsen.

"Ich hoffe, das Boot wird nicht umschlagen," sagte sie zu sich selbst. "Oh, wie schön sind diese dort: aber ich kann sie nicht erreichen." Das war wirklich ärgerlich (beinahe als ob es ihr zum Trotz geschehe). Obwohl sie viele schöne Binsen pflückte, sah sie, wenn das Boot weiterglitt, immer noch schönere, die sie nicht erreichen konnte.

"Die schönsten sind immer unerreichbar," sagte sie endlich mit einem Seufzer über den Eigensinn der Binsen, die so weit entfernt wuchsen; und mit tropfnassen Haaren und Händen kroch sie auf ihren Platz zurück und fing an, ihre Schätze zu ordnen.

Was lag ihr daran, daß die Binsen schon anfingen zu welken, und ihre Schönheit zu verlieren vom Augenblick an, da sie sie pflückte! Sogar wirkliche Binsen bleiben nur kurze Zeit frisch, und diese waren ja Traumbinsen und schmolzen beinahe wie Schnee in Haufen zu ihren Füßen — aber Alice merkte es kaum, soviel andere sonderbare Dinge gab es zu sehen.

Sie waren noch nicht viel weiter gekommen, da saß eines der Ruder wieder im Wasser fest und wollte sich nicht heraus ziehen lassen (so wenigstens erklärte es Alice nachher) und die Folge davon war, daß der Griff des Ruders sie unter dem Kinn faßte und sie trotz Gegenwehr und Geschrei vom Sitz hob und mitten unter den Binsenhaufen fegte.

Sie tat sich aber gar nicht weh und war bald wieder oben, und das Schaf strickte ruhig weiter, als ob nichts geschehen wäre.

"Da hast du einen netten Krebs gefangen," sagte es endlich, als Alice wieder auf ihrem Platz war, sehr froh, sicher im Boot zu sitzen.

"Wirklich? Ich habe ihn nicht gesehen," sagte Alice und schaute vorsichtig über den Rand des Bootes ins dunkle Wasser, da sie glaubte, daß er wieder hinein gefallen wäre. "Ich möchte sehr gerne einen kleinen Krebs mit nach Hause nehmen."

Aber das Schaf lachte verächtlich und strickte weiter.

"Gibt es hier viele Krebse?" fragte Alice.

"Krebse und alle möglichen anderen Dinge," sagte das Schaf, "sehr viel Auswahl. Aber du mußt dich nun entscheiden. Was willst du kaufen?"

"Kaufen?" echote Alice, halb erstaunt, halb erschreckt, denn das Ruder, das Boot und der Fluß waren alle in einem Augenblick verschwunden und sie war schon wieder in dem dunklen kleinen Laden. "Ich möchte gern ein Ei kaufen, bitte," sagte sie endlich schüchtern. "Was kosten sie?"
"Eins kostet zwei Groschen, zwei kosten einen Groschen," antwortete das Schaf.

"Zwei sind also billiger als eins?" fragte Alice überrascht und nahm ihre Börse heraus.

"Aber du mußt beide essen, wenn du zwei kaufst," sagte das Schaf.

"Dann will ich lieber nur eins haben, bitte!" sagte Alice und legte das Geld auf den Ladentisch nieder. Sie dachte bei sich: "Vielleicht sind sie nicht gut."

Das Schaf nahm das Geld und legte es in eine Schachtel; dann sagte es: "Ich gebe den Leuten die Sachen niemals in die Hand, das würde sich nicht schicken; du mußt es dir selbst nehmen." Dabei ging es an das andere Ende des Ladens und setzte das Ei aufrecht auf ein Schrankfach.

"Warum würde sich das nicht schicken?" dachte Alice und tappte sich zwischen den Tischen und Stühlen hindurch, denn der Laden war sehr dunkel.

"Das Ei scheint immer weiter wegzugehen, je näher ich hinkomme. Ist denn das ein Sessel? Er hat doch Zweige? Wie komisch, daß hier Bäume wachsen! Und hier ist wirklich ein Bach! Das ist der sonderbarste Laden, den ich je gesehen habe!" — — — —

So ging sie weiter und wunderte sich bei jedem Schritt mehr, daß alles sich in einen Baum verwandelte, in dem Augenblick, da sie darauf zuging. Sie erwartete, daß das Ei das gleiche tun würde.


Quelle: Alice im Spiegelland in der Open Library, dort ist das Buch in mehreren eBook-Formaten verfügbar. Die Illustrationen sind alle aus der Public Domain, wikicommons.