Charlotte Leander, Anweisungen zur Kunststrickerei, 1843

So, Pfingsten ist vorbei, die Bilder für meine Ausstellung sind rechtzeitig fertig geworden und an die Wände gekommen, es war schön. Nun geht es hier weiter.

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"Weibliche stilvolle Sommer Westen von verschiedenen Farben"

Ich habe die Erlaubnis erhalten, diesen Text von Harriet McConnell wiederzugeben. Er erschien in der Zeitschrift Deutsches Textilforum in der Rubrik "Zur Diskussion gestellt".

Die Autorin und ich sind sehr gespannt auf die Kommentare. Und vor allem: zur  zeitlichen Einschätzung.

Wann wurde wohl dieser Artikel veröffentlicht? Ich verrate es (noch) nicht!

Harriet McConnell

WIE STRICKE ICH MICH KREATIV?

Stricken erlebt zur Zeit eine Renaissance sondergleichen. Ganze 78% der deutschen Frauen stricken, 48% sogar stricken einen großen Teil ihrer Garderobe selbst. Woll-Lädchen, ein neugeborener Ladentypus, sprießen wie Pilze aus dem Boden, und dazu kramt jedes gute Warenhaus seine Handarbeitsabteilung hinter den Putzmitteln hervor und verlegt sie an einen günstigeren Schauplatz. Die Anzahl der Strickzeitschriften in jedem gut sortierten Kiosk ist verblüffend (28 Stück beim letzten Zählen am Bahnhofskiosk). Sogar völlig branchenfremde Betriebe wie Banken und Isoliermaterialfabrikanten werben mit Stricken. Und wer noch den letzten Beweis braucht: So viele ausgefallene Strickereien sind uns noch nie auf der Straße begegnet. Kein Zweifel: Stricken ist gesellschaftsfähig geworden. Doch wer näher hinschaut, dem fällt nicht nur die Menge, sondern auch das wenig Differenzierte auf. Der Widerspruch dieser an der Oberfläche sehr kreativen Strickwelle ist, daß anstatt eigener geborgte Kreativität gestrickt wird.

Der Strickboom hat sich in seiner kurzen Dauer wesentlich verändert. Angefangen hat es mit der Begeisterung des "alternativen" Lebensstils, dem bewußten Leben. Gestrickt wurde aus der Ablehnung des massenangefertigten Kleidungsstücks von der Stange, aus der bewußten Auseinandersetzung mit der individuellen Kleidung und deren Entstehen. Chemiefasern wurden abgelehnt. Man verlangte mit Nachdruck Naturfasern mit guten Trageeigenschaften. Die Pflegeleichtigkeit war von geringerer Bedeutung. Anstatt beim alteingesessenen Wolle Rödel kaufte man "Wolle" nun im Dritte-Welt-Laden. Aus der Freude am Werk entstanden fantasievolle Strickkreationen, die vielleicht weniger an Strickfertigkeit, aber große Musterfreude zu Tage brachten. Die feinabgestuften Nuancen der Pflanzenfarben animierten mit zu farbenfrohen kunterbunten - Kreationen, die meist frei aus der Fantasie gestrickt wurden.

Inzwischen hat Stricken den Aufhänger "Mode" gewonnen. Daß weniger aus ideellen Überzeugungen gestrickt wird, ist auf Anhieb an den Läden zu erkennen: Die Webstube heißt nun Tolle Wolle oder Wolleria, mit entsprechend veränderter Aufmachung. Es genügt nicht mehr, daß Garne guter Qualität mit angenehmen Trageeigenschaften und in schönen, stimmigen Farbskalen angeboten werden. Die Farbpaletten sind sogar wieder eingeschränkter, denn am wichtigsten ist es, die "Modefarben" anbieten zu können, einige wenige Farben, auf die jeder fliegt. Denn es wird jetzt gestrickt, um die eigene Garderobe modisch zu ergänzen. Garne werden passend zur Hose, sogar passend zu den Schuhen ausgewählt. Wie die Mode müssen nun auch Garne den besonderen Pfiff haben. Effekt jagt Effekt, wenn auch nur eine Saison lang. Sogar die Pulloverform ist nun von Modewandlungen abhängig. Vorbei der Standardpulli mit zwei eingesetzten Armein - gestern Fledermausärmel, heute Kastenform, morgen? Die Auswahl an Garnen, Farben, Entwürfen ist groß geworden, die getätigte Wahl jedoch enger, die Richtung, einheitlicher.

Daß Stricken zur Mode geworden ist, birgt schon an sich den Keim des Widerspruchs. Mode heißt nun doch Diktat (zumindest ein ernstgemeinter Vorschlag) und Diktat heißt Folgen, allem anderen als der Individualität und eigenen Fantasie, die man auf der Oberfläche vermuten möchte. Mode als Vorbild zwingt zur Nachahmung. Wer es nicht glauben will, der frage einen gutplazierten Laden nach Garnen der letzten großen Zeitschriftenveröffentlichung - ich wette, sie sind ausverkauft. Der Insiderbeweis eines im Wollhandel Tätigen ist die Identifizierung der vorbeilaufenden Pullis - "das war doch die Nicole im Frühjahr", "der war doch in der letzten Brigitte", "die Farben von dem Pulli sahen im Foto viel schöner aus". Wenn nicht von Zeitschriften, so muß die Anregung von Schaufenstermodellen kommen. Strickmodelle müssen ins Schaufenster, sonst läuft der Verkauf nicht gut. Wenn aber die Modelle gut sind, spazieren sie zu Dutzenden in der Stadt herum.

Für den kleineren Ladeninhaber, der seine Ideen hineingestrickt hat, ist das eine Art Pyrrhus-Sieg. Nicht nur Schnitte oder Muster werden nachgestrickt - bis ins Detail nachgearbeitete Pullover sind gang und gäbe.

Oft kommt der Kunde ohne konkrete Vorstellung, aber mit großer Lust zum Stricken in den Wolladen. Was gestrickt wird, muß der Ladeninhaber vorschlagen. Es wird also auch gestrickt der Freizeitbeschäftigung wegen - um die Öde des Fernsehens abzulösen, um Nervosität abzuarbeiten, vielleicht auch, um etwas Sinnliches in Form der weichen Materie in den Alltag zu bringen. Stricken als Hulahoop, eine, wenn auch sinnvollere, Modebeschäftigung?

Beide Motivierungen zum Stricken, sich die Mode selbst gestalten zu wollen und die Freizeit sinnvoller zu verbringen, zeigen ein grundliegendes Bedürfnis: Seine Individualität durch die eigene Kreativität auszudrücken. Stricken - noch stärker als Mode von der Stange - ist die Entdeckung des eigenen Ichs; von der Auswahl der Garne und Muster bis hin zur Fertigung des Kleidungsstückes. Was Stricken wohl immer für wenige war, ist es nun jetzt für viele. Die Vielfalt an Anregungen macht das Kreativsein einfacher und zugänglicher.

Die Vielfalt an Anregungen wird ihre Wirkung haben. Und doch müßte ein Unterschied zwischen Anregung und Nachahmung existieren können. Ein Medium, das sich in reichhaltiger Auswahl den Ideen des Werkes anbietet, wie eine Art dreidimensionaler Malkasten, läßt auch innerhalb von Anregungsmodellen viel Raum zum eigenen Schaffen.

Es gibt Zeichen, daß der Strickboom eigene Initiative sozusagen institutionalisiert, daß wir Kreativität auch in einem vorgegebenen Rahmen lernen.

Sogenannte Mustermix-Pullis sind für mich ein positives Indiz: Man lernt dabei, innerhalb eines Farbrahmens verschiedene Materialien unorthodox zu kombinieren. Dabei ist das "unorthodox" wichtig. Obwohl auch Mustermix-Pullis eine Art Modediktat sind, zumindest eine Modeerscheinung, zwingen sie zur "Freiheit" von traditionellen Vorgaben. Ihr Ursprung ist das eigene Verhältnis zur Farbe und das Produkt immer ein Unikat.

Zur Autorin:
Harriet McConnell ist Partnerin eines Garngroßhandels und eine "Drauflos-Strickerin". Ihre Art, die Dinge zu sehen, ist bestimmt nicht ganz objektiv dafür aber um so interessierter.

Aus welcher Zeit mag dieser Text stammen? AUs dem Jahre 1984! Die Autorin meint heute zu diesem Thema:

Es ist weiterhin etwas positives, wenn über Stricken den Zugang zu einer kreativen und sinnvollen Tätigkeit gefunden wird.  Das trifft heute umso mehr zu, wo der Altag immer mehr von stumpfem Konsum und Hetze geprägt ist.