Charlotte Leander, Anweisungen zur Kunststrickerei, 1843

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Ottilie Wildermuth (1817 - 1877) war eine gebildete Frau, unterrichtete Englisch, forderte Bildung für alle Menschen aller Stände, schrieb Geschichten, war mit Kerner und Uhland befreundet und korrespondierte mit Stifter, Gotthelf und Heise. Eine Frau, eingebunden in das Geistesleben des 19. Jahrhunderts.

Eine ihrer Geschichten, aus dem Band Die alte Freundin, herausgeben bei Gebrüder Kröner, 2. Auflage, möchte ich hier wiedergeben.

Die Strickschule

Das Stricken gehört nicht eben zu den Freuden der Kindheit; ich habe schon manch fröhliches junges Gesicht sich weinerlich und Verdrossen verziehen sehen, wenn der Strickstrumpf an die Reihe kommt, oft mit »Nestern«, gefallenen Maschen und verbogenen Nadeln, und wenn die aufgegebenen »Mal 'rum« eben gar nicht zustande kommen wollen.

In die Strickschule der Frau Pfarrer Kraus, die als Witwe vom grünen Dörfchen wieder in die Stadt zurückgekehrt war, um ihre Söhne besser unterrichten zu lassen, in die gingen jedoch alle gern und freuten sich, wenn die Stunde schlug, hinauszuwandern – noch mehr freuten sie sich freilich, wenn die Stunde schlug, wo sie heimspringen durften.

Es war freundlich da draußen in der luftigen, sonnigen Stube, wo die Blumen am Fenster standen und ein Käfig hing mit zwei Kanarienvögelchen, die ganz frei und zahm aus- und einspazierten; aber es war selbst freundlich im Winter durch die herzliche Güte, mit der die Lehrerin verstand, ihnen die Arbeit lieb zu machen.

Die Frau Pfarrerin hatte eine unermüdliche Geduld, die kleinen Finger das »hineinstechen, herumschlingen, herausschlüpfen« zu lehren. Sie hielt streng darauf, daß die aufgegebene Zahl gestrickt wurde, und duldete keine Nester und gefallenen Maschen; aber sie wußte auch gar mancherlei, um den Kindern die Arbeitsstunden zu kürzen und die Arbeit lieb zu machen. Nicht nur die schönen Lieder, welche sie sie singen lehrte und durch die ihre eigene glockenreine Stimme so schön durchklang; sie lehrte sie auch allerlei heitere Reimlein, sie ließ sie Rätsel erraten, in die Wette stricken, alles, was sich neben fleißigem Stricken thun ließ, um in die Arbeit noch Vergnügen zu bringen. Und was für schöne Geschichtchen wußte die Frau Pfarrerin! Nicht gerade so wunderbare Märchen oder gar schauerliche Räuber- und Geistergeschichten, wie sie einige der Kinder daheim von ihren Dienstmädchen gehört hatten, die beim Erzählen sich selber gefürchtet; aber sie konnte so gar nett berichten von der Zeit, wo sie klein gewesen war, von dem Dörflein, wo ihre Kinder bis jetzt aufgewachsen waren, vom Michele und Stoffele, vom Gretle und Liesele dort, daß die Kinder nicht müde wurden, zuzuhören; es waren ihnen die Dorfkinder seither vorgekommen, eines wie das andere, fast wie eine Art von Tierlein; jetzt erst sahen sie, daß es auch verschiedenartige unter ihnen gab, lustige und traurige, gute und böse, wie unter den Kindern der Stadt.

Das muß ich nun freilich sagen, auch über der schönsten Geschichte überhörten sie nicht die Stunde, wo sie, an schönen Tagen im Freien draußen, ihr Vesperbrot essen und sich vergnügen durften. Interstitium (Zwischenpause) nannte ihr Lehrer diese freie Viertelstunde und sie hießen es beharrlich »Unterstützung«, weil sie dachten, diese Zeit sei dazu da, um sich zur Arbeit zu unterstützen. Da gingen denn die Mäulchen zum Essen und zum Plaudern! Von selbst war noch nie eine zur Schulstube zurückgekehrt, Frau Pfarrerin mußte meist zweimal mit dem Glöckchen schellen, und es brauchte eine gute Weile, bis all die Händchen gewaschen waren und die Arbeit wieder im Gange.

Mittwoch war der einzige Tag, wo nachmittags Strickstunde gehalten wurde, weil da keine Schule war, und bei schönem Wetter saß man unter dem großen alten Birnbaum, um den sich Sitze und Tische zogen. Es war ihm schon der Tod geschworen, dem guten, alten Burschen, der doch von seinen jungen Jahren an so viel saftige Birnen heruntergeschüttelt hatte; aber jetzt trug er nicht mehr viele, der Stamm war zerklüftet und an seiner Stelle sollte bald ein Haus gebaut werden; nur die Frau des Werkmeisters hatte Jahr um Jahr immer noch Aufschub für ihn erbeten.

Die kleinen Mädchen ließen sich das einstweilen nicht anfechten; sie saßen gar zu gern unter dem Birnbaum, wo man hinaussah in das weite, grüne Thal, wo man die Marktleute und hie und da auch schöne Wagen und Reiter auf der Straße vorüberziehen sah; Singen und Stricken, Spielen und Plaudern, alles ging noch schöner unter dem Birnbaum.

Freilich schauten oft auch die Knaben herüber von der Baustätte, die ihr Tummelplatz war, und kamen nah und näher gegen den Birnbaum, schnitten Gesichter gegen die Mädchen und riefen ihnen halblaut Spottnamen zu, hatten ihnen auch einmal alle ihre Hütchen genommen, die sie abgelegt hatten, und oben am Geländer des Hühnerstalls, zu dem ein Treppchen hinaufging, aufgehängt und die Hühnerleiter dann weggezogen. Was gab das ein Geschrei und Jammern unter den kleinen Mädchen, als sie ihre schönen Hütchen nicht fanden und sie endlich da oben hängen sahen und nicht wußten, wie sie hinaufkommen sollten!

Frau Pfarrerin aber, so sanft und freundlich sie sonst war, die verstand hier keinen Spaß. Sie erblickte die kleinen Missethäter, die sich hinter einem Busch versteckt hatten, um sich an dem Jammer zu ergötzen, den sie angerichtet.

»'raus da, ihr unartigen Burschen,« kommandierte sie, »im Augenblick holt ihr die Hühnerleiter und steigt hinauf, nehmt sachte und vorsichtig die Hütchen und tragt sie herunter! Ich kenne dich, Roller, und deinen Papa, und ich kenne eure Lehrer; wenn ihr nicht sogleich die Hütchen unverdorben bringt und mir versprecht, daß ihr nie mehr solchen Unfug treiben wollt, so sage ich's heute noch euren Eltern und den Lehrern, dann wird's euch schlecht gehen!«

Und innerlich knurrend, aber doch unverzüglich krochen die Buben unter ihrem Busch hervor, und mit stiller Verwunderung sahen die kleinen, mit heimlichem Kichern die größeren Mädchen, wie sie gehorsam die Leiter anlegten, hinaufkletterten und sachte, sachte eines der Hütchen nach dem anderen herabbrachten und mit halb abgewendetem Gesicht auf den Tisch legten nach der Frau Pfarrerin Befehl. »Wollen's nicht mehr thun,« knurrten sie noch, als sie abzogen.

Die Mädchen hielten sich ganz nahe zusammen, als sie mit ihren wiedereroberten Hütchen heimwärts gingen; sie hatten Angst, ob die Jungen nicht noch Rache an ihnen üben wollten. Die standen in einem Trüppchen zur Seite, als die Mädchen an ihnen vorüberkamen, schämten sich aber doch ein bißchen; nur ein paar der Frechsten riefen ihnen halblaut nach: »Ihr Äfflein, ihr Frätzlein, was braucht ihr Hüte?« Das schadete den Mädchen nichts, und von da an blieben sie unangefochten von den Buben.


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